Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
Totenhemden, die an den Regalen herunterhingen und die zum Teil aus billigem Kreppapier, zum Teil aus Kunstseide geschneidert waren. Schwarze Schleier, schwarze Jacken und Röcke bewegten sich gespenstisch im Luftzug, der durch die Fugen an der Schaumburgerstraßenseite hereinkam. Die Poschinger machten in dieser Zeit das größte Geschäft ihres Lebens. Aber sie hatten von ihrem Geld nichts, weil man für Geld nichts mehr bekam. Zum erstenmal verdiente mein Großvater, zwei Bücher wurden gedruckt, wie es geheimnisvoll hieß, in Holland, nicht in Deutschland, aber für das Geld, das er feierlich auf der sogenannten Kreissparkasse angelegt hatte, war nichts zu bekommen. Eines Tages witterte er eine Chance. Er hatte in der
Traunsteiner Zeitung
gelesen, daß in der Nähe von Ruhpolding eine Malerstaffelei zu verkaufen sei.
Malen
, sagte er,
das wäre doch etwas für dich. Eine Kunstbeschäftigung!
Er hatte das Inserat mehrere Male rot unterstrichen. Wir fuhren mit dem Dampfzug nach Ruhpolding. Wir fragten uns bis zu dem Haus, in welchem die angebotene Malerstaffelei auf uns wartete, durch. Ein uraltes, halb verfaultes und vermodertes Monstrum stand in einem beinahe finsteren Vorhaus. Die Enttäuschung war groß. Die Staffelei wurde gekauft. Unter den schwierigsten Umständen wurde die Staffelei, von welcher gesagt worden war, daß der berühmte Maler Leibl darauf gemalt habe, nach Traunstein befördert. Mein Großvater hatte die Staffelei bar bezahlt. Auf der Heimreise, in der Gegend von Siegsdorf, sagte mein Großvater:
Vielleicht ist es die Malkunst. Du hast doch das größte Zeichentalent. Irgend etwas Künstlerisches
, sagte er. Die Malerstaffelei war, wie ausgemacht, ein paar Tage später geliefert und in der Schaumburgerstraße abgeladen worden. Sie war in sämtliche Teile zerfallen. Kurze Zeit darauf hatten wir sie in unserem Wohnzimmerofen verheizt. Von der Malkunst war nicht mehr die Rede. Ich schrieb Gedichte. Sie handelten vom Krieg und von seinen Helden. Ich ahnte, daß die Gedichte schlecht waren, und gab auf. Ich bemühte mich aufeinmal, wo so viel von Heldentum die Rede war, aus mir selbst einen Helden zu machen. Das Jungvolk bot dazu die beste Gelegenheit. Ich steigerte mich noch in den verschiedenen Laufdisziplinen. Möglicherweise hatte sich mein sportlicher Ruhm mit der Zeit doch auf die Schule übertragen, denn dort begann man, aufgrund meiner jetzt von mir ganz offen auch im Unterricht getragenen Siegernadeln, hellhörig zu werden. Ich hatte mehr Siegernadeln errungen als alle andern. Noch ahnte ich selbst es nicht, aber ich
war
schon der Held in der Schule. Ich war nicht aufmerksamer, ich war nicht besser als vorher, meine Noten zeigten meinen schulischen Aufstieg an. Das Wort
Ertüchtigung
war das Machtwort. Ich hatte es ausgenützt. Aus dem Gemiedenen war aufeinmal der Begehrte geworden. In dieser Zeit hatte ich auch, ohne daß es mir zuerst aufgefallen wäre, mein Bettnässen eingestellt. Ich war der Held, nicht mehr der Bettnässer. Einmal gab ich ein ungeheuer spannendes Schauspiel meines Heldentums vor Hunderten von Schülern auf der Aschenbahn in der Au. Ich war den Hundertmeterlauf in Rekordzeit gelaufen, gleich darauf auch noch den Fünfhundertmeterlauf. Ich hatte zwei Siegernadeln gewonnen. Die Menge tobte. Ich war ein Gladiator. Die Huldigung der Menge tat mir gut, ich zog sie raffiniert in die Länge. Als ich aber an diesem Tag, als niemand mehr auf dem Sportplatz war, noch einen kleinen Umlauf machen wollte, rutschte ich aus und stürzte der Länge nach auf die Aschenbahn. Stirn, Kinn waren aufgerissen. Ich humpelte über die sogenannte Kurlichtspieltreppe aus der Au durch verschiedene Hintergassen und -höfe nachhause. Es war niemand da außer der Poschinger Elli. Ich mußte einen jämmerlichen Eindruck gemacht haben. Am nächsten Tag sollte die Siegerehrung sein! Die Poschinger Elli machte kurzen Prozeß. Sie setzte mich schwungvoll auf den kalten Küchenherd und begann, wie ich mich noch genau erinnere, mit einer großen Schneiderschere sehr geschickt Fleischfetzen von meinen Knien herunterzuschneiden. Als sie die klaffenden Wunden mit Spiritus beträufelt hatte, sagte sie:
so, dös hamma!
Sie umwickelte meine Knie mit einem endlos scheinenden Verband und klebte, nachdem die Wunden ausgewaschen waren, auf Stirn und Kinn ein Pflaster. Bei der Siegerehrung am darauffolgenden Vormittag machte ich dem Helden, der ich jetzt war, alle Ehre. Ich entsprach dem Bild seiner Vollkommenheit.
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