Die Ballonfahrerin des Königs
alles.»
Sie verließen die Kirche durch eine Seitentür im Querhaus. Draußen vergewisserten sie sich erst, dass sie alleine waren, bevor
sie zielstrebig einen bestimmten Punkt im Garten ansteuerten.
Wie immer, wenn sie sich zu der Falltür begab, nahm Marie-Provence überdeutlich den Gesang der Amseln wahr, das Wehen der
frühsommerlichen Brise, das Rascheln der Lindenblätter, den Duft der alten Rosen. Wegen der Furcht, entdeckt zu werden, waren
ihre Sinne so gespannt und ließen sie ihre Umgebung besonders intensiv wahrnehmen.
Seit vier Jahren überließ man den Garten, der die Kirche umgab, sich selbst. Nur der Weg zum Hauptschiff wurde regelmäßig
instand gehalten, und so hatte sich der hübsche kleine Park in eine zügellos wuchernde Wildnis verwandelt. Während Marie-Provence
und Rosanne sich einen Weg bahnten, gaben sie acht, keine Zweige zu brechen und alle Spuren zu vermeiden, die einen zufällig
Vorbeikommenden auf den Gedanken hätten bringen können, dass sich ein regelmäßig benutzter Weg durch das Grün schlängelte.
Auch hatten sie es sich zur Regel gemacht, stets schweigend die Falltür aufzusuchen, die den geheimen Durchgang zum Schloss
verbarg. Das Pflanzenreich bot zwar Schutz, doch das Gelände war klein und gerahmt von den Straßen von Sartrouville. Kein
Dorfbewohner sollte durch unvermutete Frauenstimmen neugierig gemacht werden.
|33| Sie umrundeten die kleine Kapelle, deren Marienbild geraubt worden war, und knieten schweigend hinter ihr nieder, um die blühenden
Ranken eines Geißblattes beiseitezuschieben. Für einen Moment summten aufgebrachte Bienen um sie herum. Rosanne packte den
rostigen Ring und zog an der schweren Holztür. Diese öffnete sich ohne einen Laut, denn die Scharniere waren sorgfältig geölt.
Ein Schwall kalter Luft vertrieb den betäubenden Duft der Geißblattblüten.
Marie-Provence ergriff eine bereitliegende Fackel und entzündete sie. Die beiden Frauen lächelten sich zum Abschied zu. Marie-Provence
packte beide Körbe und ächzte leise unter der Last. Unten, am Fuß der Treppe, wartete der Handwagen auf sie, doch bis dahin
musste sie es ohne Hilfe schaffen.
Sie schauderte, als sie in den tiefen, feuchtkühlen Gang hinabstieg, der unter der Seine hindurch die Kirche von Sartrouville
mit dem Schloss von Maisons verband.
***
Das Schloss von Maisons war etwa einhundertfünfzig Jahre alt und gehörte dem jüngsten Bruder des geköpften Louis XVI . Der Pferdenarr hatte sich vor knapp zwanzig Jahren in die herrliche Lage des Schlosses, zwischen der Seine und dem Wald
von Saint Germain, verliebt. Die Stallungen boten seinen achtzig Pferden bequem Platz, und die riesigen Park- und Waldstücke
eigneten sich vorzüglich für die Jagd, für Wettrennen und lange Ausritte.
Die politischen Wirren hatten dem regen gesellschaftlichen Leben auf dem Schloss ein abruptes Ende gesetzt. Drei Tage nach
der Einnahme der Bastille gehorchten die Brüder des Königs dessen Befehl und flüchteten ins Ausland. Was zurückblieb, war
den plündernden Horden zum Opfer gefallen. Nachdem so gut wie alles aus dem Schloss gestohlen worden war, was nicht niet-
und nagelfest war, hatten die revolutionären Behörden das Gebäude versiegelt – und vergessen.
|34| Für Marie-Provence, ihre Tante, ihren Onkel und die fünf Mitbewohner hatte sich das verlassene Schloss als ideales Versteck
und ein Geschenk des Himmels entpuppt.
Marie-Provence schob sich die Haube von der feuchten Stirn. Der Karren lief schwer auf dem unbefestigten Boden, und wie immer
war sie froh, als sie das Ende des Ganges erreichte. Die Fackel, die ihren Schatten monströs verzerrt auf die steinerne Decke
des Tunnels warf, ließ sie die kleine Tür erkennen, die den Tunnel verschloss. Sie öffnete sie, hievte beide Körbe aus dem
Wagen und ließ diesen stehen. Gemüse und Brot stellte sie vor die Tür, die sie sorgfältig wieder hinter sich schloss.
Zwei Treppen musste Marie-Provence noch im Dunkeln hochsteigen, bevor sie sich auf der Höhe des Trockengrabens befand, der
das Gebäude und die ihm vorgelagerte Terrasse umschloss. Wegen des Gewichts der Körbe musste sie zweimal gehen. Mit einem
Seufzer der Erleichterung setzte sie die Last schließlich in der kleineren der beiden Küchen ab. Ernestine konnte sich noch
Zeit lassen mit der Zubereitung des Essens. Es war Juni, die Tage waren lang, und sie warteten mit dem Anzünden des Kamins
stets bis zum Anbruch der
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