Die Berechnung der Zukunft: Warum die meisten Prognosen falsch sind und manche trotzdem zutreffen - Der New York Times Bestseller (German Edition)
die sowjetische Wirtschaft jährlich um 5 Prozent schrumpfte. Dazu kam eine zweistellige Inflationsrate.
Berücksichtigt man diese beiden Faktoren, so liegt der Kollaps der Sowjetunion gewissermaßen geradezu auf der Hand. Durch die Lockerung der Zensur, die Öffnung der Märkte und die Gewährung größerer demokratischer Rechte hatte Gorbatschow seinem Volk die Mittel an die Hand gegeben, einen Regimewechsel herbeizuführen, und aufgrund der maroden Wirtschaftslage legte es freudig Hand an. Das politische Zentrum war zu schwach, um sich zu halten: Nicht nur waren die Esten der Russen überdrüssig, auch die Russen waren die Esten leid, denn die Satellitenstaaten trugen weniger zur sowjetischen Wirtschaft bei, als sie an Zuschüssen aus Moskau erhielten. 14 Als erst einmal der erste Dominostein in Osteuropa umgefallen war – Ende 1989 befanden sich die Tschechoslowakei, Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn und die DDR im Aufruhr –, konnten weder Gorbatschow noch andere den Zusammenbruch der UdSSR verhindern. Viele Sowjetunion-Spezialisten erkannten gewisse Aspekte des Problems, aber nur wenige Experten fügten alle Puzzleteile zusammen, und fast niemand sagte den plötzlichen Kollaps der Sowjetunion voraus.
Angeregt durch das Beispiel der Sowjetunion, begann Tetlock mit Umfragen auf anderen Gebieten. Er bat Experten, Prognosen zu erstellen über den Golfkrieg, die Immobilienblase in Japan, die Chancen einer Unabhängigkeit Quebecs von Kanada und fast alle wichtigen Vorkommnisse der 1980er- und 1990er-Jahre. War der Umstand, dass man den Kollaps der Sowjetunion nicht vorausgesehen hatte, eine Anomalie, oder sind Expertenmeinungen nur in Ausnahmefällen das Papier wert, auf das sie gedruckt sind? Seine Studien über einen Zeitraum von mehr als 15 Jahren veröffentlichte er schließlich 2005 in dem Buch Expert Political Judgment .
Tetlocks Ergebnisse sind vernichtend. Die Experten in seiner Studie schnitten ungeachtet ihres Berufs, ihrer Erfahrung und ihrer Spezialisierung kaum besser ab als der Zufall und schlechter als selbst die einfachste statistische Methode zur Prognose künftiger politischer Ereignisse. Die Experten zeichneten sich durch Selbstüberschätzung und ihre Unkenntnis in Sachen Wahrscheinlichkeitsrechnung aus. Etwa 15 Prozent der von ihnen als undenkbar eingestuften Ereignisse traten dennoch ein, während 25 Prozent der als absolut sicher vorausgesagten Entwicklungen ausblieben. 15 Dabei spielte es keine Rolle, ob die Experten Prognosen über die Wirtschaft, die Innenpolitik oder über internationale Beziehungen anstellten. Ihr Urteilsvermögen war stets gleichbleibend schlecht.
Der richtige Weg zu besseren Prognosen:
Schlau sein wie ein Fuchs
Obwohl sich die Expertenleistung insgesamt bescheiden ausnahm, fand Tetlock heraus, dass einige wenige darunter besser abschnitten. Auf der Verliererseite standen jene, die in den Medien am stärksten präsent waren. Je mehr Interviews ein Experte gab, fand Tetlock heraus, desto schlechter waren seine Prognosen.
Eine andere Expertenkategorie schnitt jedoch relativ gut ab. Tetlock, ein studierter Psychologe, nahm das kognitive Verhalten der Experten, also ihre Gedanken über die Welt, unter die Lupe, indem er ihnen einige Fragen, wie sie bei Persönlichkeitstests verwendet werden, zukommen ließ.
Anhand ihrer Antworten konnte Tetlock seine Experten einem Spektrum zwischen zwei Extremen, die er »Igel« und »Füchse« nannte, zuordnen. Diese Bezeichnungen beziehen sich auf einen Essay Isaiah Berlins über den russischen Romancier Leo Tolstoj, Der Igel und der Fuchs . Berlin selbst hat seinen Titel einem Text entliehen, der dem griechischen Dichter Archilochos zugeschrieben wird: »Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache.«
Falls Sie kein Fan Tolstojs oder blumiger Prosa sind, besteht für Sie kein Grund, Berlins Essay zu lesen. Die grundlegende Idee ist, dass sich Schriftsteller und Denker in zwei große Gruppen einteilen lassen:
Wie Füchse denken
Wie Igel denken
Übergreifend: Bedienen sich der Erkenntnisse unterschiedlicher Fachgebiete und ignorieren ihre eigenen politischen Überzeugungen.
Spezialisiert: Haben sich oft den größten Teil ihrer Karriere mit einem oder zwei großen Problemen beschäftigt. Stehen den Meinungen von Außenseitern möglicherweise skeptisch gegenüber.
Anpassungsfähig: Bedienen sich einer neuen Perspektive oder mehrerer neuer Perspektiven, falls an der ursprünglichen Zweifel aufkommen.
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