Die Berechnung der Zukunft: Warum die meisten Prognosen falsch sind und manche trotzdem zutreffen - Der New York Times Bestseller (German Edition)
Zeiten, als man sich in den Sendungen zu überschreien versuchte, wie in Crossfire auf CNN, wo Liberale und Konservative endlos miteinander zankten. Unsere gegenwärtige Zeit, in der alles dauernd nachgeplappert wird, unterscheidet sich nicht groß von den Zeiten, in denen man versuchte, einander niederzubrüllen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass sich die Liberalen und Konservativen auf ihre eigenen Sender beschränken, die im Programmschema der Kabelsender von demilitarisierten Zonen wie dem Food Network und dem Golf Channel getrennt aufgelistet werden (die meisten Kabelanbieter schieben mindestens eine Handvoll Sender zwischen Fox News und MSNBC). Dieses Arrangement bringt höhere Zuschauerzahlen, jedoch nicht unbedingt zuverlässigere Analysen.
Aber was ist mit den Leuten, die für die Genauigkeit und Gründlichkeit ihrer Forschung bezahlt werden und nicht für die Anzahl ihrer Aussagen? Stellen Politologen oder Analytiker von Thinktanks in Washington die besseren Prognosen?
Sind Politologen besser als selbst ernannte Experten?
Der Zerfall der Sowjetunion und anderer Ostblockländer erfolgte erstaunlich schnell und angesichts der Umstände erstaunlich wohlgeordnet – von den Revolutionen im Ostblock führte nur die in Rumänien zu einem größeren Blutvergießen.
Am 12. Juni 1987 stand Ronald Reagan am Brandenburger Tor und beschwor Michail Gorbatschow: »Reißen Sie die Mauer ab!« Geflügelte Worte, die so tollkühn wirkten wie seinerzeit das Versprechen John F. Kennedys, einen Mann zum Mond zu schicken. Reagan hatte Weitblick bewiesen: Zweieinhalb Jahre später war die Mauer gefallen.
Am 16. November 1988 erklärte das Parlament der Republik Estland der mächtigen Sowjetunion seine Unabhängigkeit. Weniger als drei Jahre später schlug Gorbatschow einen Putschversuch von Hardlinern in Moskau nieder, und auf dem Kreml wurde zum letzten Mal die Rote Fahne eingeholt. Estland und andere Sowjetrepubliken würden bald unabhängige Staaten werden.
Rückblickend wirkt der Zusammenbruch des Sowjetreichs vorhersehbar, aber kaum ein Mainstream-Politologe hatte ihn kommen sehen. Die wenigen Ausnahmen wurden in der Regel belächelt. 8 Wenn Politologen nicht einmal den Fall der Sowjetunion vorhersehen konnten – das vielleicht wichtigste Ereignis in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wofür waren sie dann überhaupt gut?
Philip Tetlock, Professor der Psychologie und Politologie und damals an der University of California in Berkeley tätig, 9 stellte ähnliche Fragen. Zufälligerweise hatte er zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Sowjetunion ein ehrgeiziges und neuartiges Experiment unternommen. Ab 1987 trug Tetlock Prognosen von unterschiedlichen Experten aus der akademischen Welt und aus Regierungskreisen zu verschiedenen Themen wie Innenpolitik, Wirtschaft und internationale Beziehungen zusammen. 10
Dabei fand Tetlock heraus, dass es Politologen Mühe bereitete, den Kollaps der UdSSR vorherzusehen, weil eine Prognose, die nicht nur die Abdankung des Regimes, sondern auch ihre Ursachen erfasste, verschiedene Argumentationsstränge miteinander verknüpfen musste. Diese Ideen widersprachen sich zwar nicht unbedingt, waren aber von Leuten aus verschiedenen politischen Lagern ersonnen worden. 11 Gelehrte, die einer bestimmten ideologischen Richtung zuzuordnen waren, berücksichtigten in der Regel andere Denkweisen nicht.
Einerseits spielte Gorbatschow mit seinen aufrichtigen Reformwünschen eindeutig eine wichtige Rolle. Wäre er Buchhalter oder Dichter geworden, statt in die Politik zu gehen, dann hätte die Sowjetunion noch ein paar Jahre länger bestanden. Die Liberalen tendierten eher dazu, Gorbatschow Sympathie entgegenzubringen. Die Konservativen trauten ihm weniger, und einige misstrauten seinen Ausführungen über Glasnost.
Die Konservativen betrachteten den Kommunismus jedoch auch instinktiv kritischer und erkannten früher, dass sich die Wirtschaft der UdSSR dem Kollaps näherte und das Leben für den Durchschnittsbürger immer schwieriger wurde. Noch Ende der 1990er-Jahre schätzte die CIA fälschlicherweise, 12 dass das BIP der Sowjetunion etwa die Hälfte des USA-BIP 13 betrug (auf einer Pro-Kopf-Basis, was heute dem BIP Südkoreas oder Portugals entspricht). Neuere Erkenntnisse besagen, dass die durch den langen Krieg in Afghanistan und verschiedene vernachlässigte soziale Probleme geschwächte Sowjetunion etwa eine Billion Dollar ärmer war, als die CIA angenommen hatte, und dass
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