Die Bibel
schaue ich gar nicht an. Tue nur hinweg von mir das Geplärr deiner Lieder, und dein Harfenspiel mag ich nicht hören! Es soll aber das Recht einherfluten wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein unversiegbarer Strom!
Fluten von Recht und Gerechtigkeit will Gott und nicht das fromme Gedöns, das dem der Heiden zum Verwechseln ähnlich sieht. Die Unterscheidung – hier «das jüdische Gesetz», dort «das christliche Evangelium» – ist also irreführend.
Der dritte Irrtum lautet, Jesus habe die Liebe zum Nächsten und sogar die Feindesliebe gepredigt und mit dieser Hinwendung zum Einzelnen das Individuum in den Mittelpunkt gerückt. Das Alte Testament dagegen sei kollektivistisch. Es kenne nur die Gesellschaft, das Volk, und von Nächsten-, gar Feindesliebe sei nicht die Rede.
Dass aber Gott sehr wohl den Einzelnen sieht, beweist schon seine Methode, sich immer einzelner Menschen – Abraham, Mose,David, die Propheten – zu bedienen. Und wer trotzdem zweifelt, lese den berühmten Psalm 23, der mit dem Satz beginnt:
Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf grünen Auen und führt mich zu stillen Wassern.
Das soll Kollektivismus sein?
Schließlich die Liebe. Die sei nun aber wirklich typisch christlich, hat nicht Jesus gesagt,
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst
? Richtig. Hat er gesagt, genauer: zitiert. Das Alte Testament – drittes Buch Mose 19,18 – hat er zitiert.
Und die Feindesliebe?
Liebt eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, und bittet für die, welche euch beleidigen und verfolgen
– tatsächlich sucht man einen Satz in dieser Deutlichkeit im Alten Testament vergeblich. Andererseits findet man im zweiten Buch Mose (23,4) die Anweisung:
Wenn du das Rind deines Feindes oder seinen Esel antriffst, der sich verlaufen hat, so sollst du ihm denselben auf jeden Fall wiederbringen
. Und bei Hosea heißt es:
So kehre nun um zu deinem Gott, halte fest an Liebe und Recht und hoffe stets auf deinen Gott
.
Bleibt die Messiasfrage übrig. Ihretwegen gehen die getauften Heiden einen anderen Weg, jenen Weg, den Jesus eigentlich seinem Volk der Juden gewiesen hatte. Daher betrachteten sich jetzt die getauften Heiden, die neuen Christen, als das neue Volk Gottes. Die Radikalität, die Jesus seinem Volk der Juden vergeblich abverlangt hatte, die zeigten nun die christlichen Urgemeinden. Ihr Wissen, dass der Weg Jesu am Kreuz enden kann, hinderte sie nicht, ihn zu gehen. Sie sind ihn wirklich gegangen, mit oft tödlicher Konsequenz.
Die Apostelgeschichte beschreibt, wie sie dreihundert Jahre lang einen radikal anderen Lebensstil lehrten, damit ihre Umgebung provozierten, überall aneckten und die klügsten Köpfe ihrer Zeit herausforderten. Die Anhänger dieses neuen Glaubens hatten anders gedacht, anders gesprochen und anders gehandelt als der Rest der Welt. In den Gemeinden, die sich gebildet hatten, waren die Gesetze der Welt außer Kraft gesetzt. Da gab es
nicht mehr Juden
und Griechen, nicht mehr Sklaven und Freie, nicht mehr Mann und Frau
, die Gräben zwischen verschiedenen Rassen, Völkern und Kulturen, verschiedenen Klassen und zwischen den Geschlechtern existierten nicht mehr und auch nicht mehr der Gegensatz zwischen Arm und Reich.
Die ersten Christen
hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle. … wer von ihnen Äcker oder Häuser besaß, verkaufte sie und brachte das Geld für das Verkaufte und legte es den Aposteln zu Füßen; und man gab einem jeden, was er nötig hatte.
Agape nannte man das damals. Später, in der Neuzeit und der Aufklärung entwickelte sich daraus das, was man bis heute Solidarität nennt.
Dass auch Arme und Schwache eine Würde haben, dass sich der Wert des Menschen nicht aus seiner Leistung speist und auch nicht aus seiner Herkunft, seiner Rasse, seinem Alter, seinem Besitz oder seinem Geschlecht, das rührt von diesen Geschichten her, das kommt von der Zusage Gottes, ihm sei jeder Mensch gleich viel wert. Der soziale und demokratische Rechtsstaat, die allgemeinen Menschenrechte haben ihre Wurzeln in jener Geschichte, die vor dreieinhalbtausend Jahren am Schilfmeer ihren Anfang genommen hatte und vor zweitausend Jahren zwischen Jerusalem und Rom noch einmal wiederholt wurde.
Wenn es heute jemandem gelänge, hieb- und stichfest zu beweisen, dass all die Geschichten, die in der Bibel stehen, sich niemals ereignet haben, dass sie reine
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