Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
1
Haiti
Es war schon dunkel und nur noch wenige Geräusche drangen
in den Innenhof des Humfo. Einige Vögel, die wohl im Schlaf gestört worden waren,
protestierten mit lautem Gezeter, doch schon bald kehrte wieder Ruhe auf dem Schlafbaum
neben dem Tempel ein.
Der Priester überprüfte akribisch alle Vorbereitungen,
die für den morgigen Tag getroffen worden waren. Krüge für die Aufnahme der Seelen,
die dem Wasser entrissen werden sollten, standen bereit, das weiße Zelt war bereits
aufgebaut, und das große weiße Tuch lag sauber gefaltet im Vorbereitungsraum.
Er seufzte.
Es war ein schwieriges Ritual und eines
der wenigen, an dem die Mitglieder der Société nicht unmittelbar teilhaben konnten,
gleichwohl war es ein emotional erschütterndes. Sie würden ihn nur als Schatten
hinter dem Tuch agieren sehen und seine Stimme vernehmen können, mit der er die
umherirrenden Seelen überreden würde, zu ihm zu kommen. Jedes Mal, wenn die Angehörigen
einen der Gerufenen antworten hörten, ginge ein Raunen durch die Gemeinde. Die Familien
wären glücklich, denn die Antwort des lieben Verstorbenen bewies die Rückkehr seiner
Seele aus dem Zwischenreich. Endlich könnte sein bisher herumirrender Geist in einem
heiligen Gefäß die ersehnte, sichere Zuflucht finden. Eine sehr anstrengende Zeremonie
– aber sie war unbedingt notwendig, wollte man nicht, dass die arme Seele weiter
in den Tiefen gefangen bliebe.
Schritte kündeten von der Ankunft eines Fremden.
Der Priester lauschte kurz, dann trat er
entschlossen der dunklen Gestalt entgegen. Es handelte sich sicher um niemanden,
der eine Zeremonie kaufen wollte. Der Schritt des späten Besuchers war eher militärisch
hart, weniger religiös gemessen. Ganz bestimmt kein Bittsteller, kein Mitglied der
Gemeinde.
Er erkannte zwei Augen, erahnte einen massigen
Körper in der Finsternis neben dem Poteau-mitan, dem Mittelpunkt des heiligen Raumes.
Den zweiten Schlag spürte er schon nicht
mehr.
Rasch beugte sich der Unbekannte über den
Priester und überzeugte sich davon, dass er ihn bei seinen weiteren Aktivitäten
nicht stören würde.
Der Schlüsselbund war schnell gefunden.
Aus einem der angrenzenden Räume entwendete
er mehrere Krüge und lud sie in den Kofferraum seines Geländewagens. Schon wenige
Momente nach dem Überfall war er verschwunden.
Nur Stille blieb über dem Humfo zurück.
2
Freiburg im Breisgau
Burkhard Grün schlenderte über den Freiburger Münsterplatz.
Zufrieden sah er sich um, genoss die Atmosphäre,
eine Mischung aus Leichtigkeit und Broterwerb, die über dem Wochenmarkt lag. Die
Bauern und Kunsthandwerker der Umgebung der Schwarzwaldmetropole hatten ihre Stände
gut bestückt, alles war bunt, und die Menschen wirkten entspannt. Der Duft gebratener
und gegrillter Würstchen, der berühmten langen Roten, hing über dem gesamten Areal.
Er schnupperte.
Noch zu früh, beschied er seinem Magen,
der unwillig knurrte. Burkhard Grün lächelte.
Er war viel zu eitel, um gedankenlos irgendwelchen
Gelüsten nachzugeben. Gegessen war die Wurst schnell, ohne Zweifel wäre sie ausgesprochen
schmackhaft, doch um die sinnlos konsumierten Kalorien wieder zu verbrennen, müsste
er stundenlang joggen.
Das war die Sache nicht wert.
Der große, athletisch gebaute Mann arbeitete
als Model für namhafte Kunden aus der Modebranche, er würde seinen beruflichen Erfolg
nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.
Schwarze Haut war in.
Wieder zuckte ein sympathisches Lächeln
über sein Gesicht.
Alles lief perfekt.
Den Namen hatte er sich ausgesucht, weil
er sich über das Spiel mit Farbe amüsierte. Die Legende, die man sich für ihn ausgedacht
hatte, gefiel ihm ebenfalls und war leicht zu lernen gewesen: Sein Vater hatte eine
Schwarze geheiratet, beide waren Einzelkinder und kamen tragischerweise bei einem
Autounfall in Kenia ums Leben. Da beide dieses Land liebten, wurden sie dort beigesetzt.
Der Sohn, Burkhard, kehrte nach Deutschland zurück und wurde Model. Bisher hatte
diese Geschichte jeder Überprüfung standgehalten.
Mit geschmeidigen Bewegungen schob sich
der junge Mann durch den Strom der Einkaufenden, ohne jemanden zu berühren.
Gerade als er die Münsterbauhütte erreicht
hatte, zirpte diskret sein Mobiltelefon. Mit einem Ruck ließ er es aufschnappen.
»Ja!«
Die andere Stimme war laut und sprudelte
Sätze in einer Sprache hervor, die den meisten Menschen auf dem Markt mit Sicherheit
unbekannt war. Burkhard hörte
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