Die Bibliothek der Schatten Roman
War sie geflohen? Beinahe hoffte er es. Wenn er sich nur überzeugen könnte, dass sie in Sicherheit war. Könnte er doch nur kurz einen Blick nach draußen werfen, um sich zu überzeugen, dass es ihr gut ging.
Drei weitere Gefolgsleute von Remer tauchten auf.
Die Niederlage schien unabwendbar. Ohne Katherinas Unterstützung und mit immer mehr reaktivierten Leuten auf Remers Seite hatte er keine Chance. Seine Energie war bald verbraucht, aber trotzdem konnte er nicht aufhören zu lesen. Auch Patrick Vedels Einfluss war verschwunden, dafür hielten andere Empfänger ihn im Text gefangen.
Der Protagonist an der Grabstelle unterbrach seinen Monolog, schloss die Augen und senkte den Kopf. Er beugte sich langsam vor, bis seine Stirn den Stein berührte.
Dunkelheit. Zurück im Auto. Die Seiten und das Dach waren eingedrückt, und er konnte sich nicht bewegen. Von hinten kamen Schreie, gedämpft, wie von einer Decke erstickt, aber eindringlich und nicht zu überhören. Ein kräftiger Benzingeruch reizte ihn zum Husten. Die Erschütterung schoss ihm wie ein Stromschlag durch den Körper, und ein gnadenloser Schmerz in den Beinen ließ ihn laut aufschreien.
Jon war überrumpelt vom abrupten Szenenwechsel, sammelte sich aber schnell wieder. Die Dunkelheit schränkte die Manipulationsmöglichkeit der Szenerie ein und gab ihm Raum runterzuschalten. Er versuchte, seine Kräfte zu sammeln, wusste aber auch, dass es nicht lange dauern würde, bis die Szene wieder wechselte.
»Alles okay?«, fragte eine Stimme vor der Autotür.
Die Hauptfigur konnte nur schreien.
Danach die Geräusche. Metall auf Metall, zerreißendes Blech, das Ächzen und Knirschen der Karosserie. Benzindampf füllte seine Lungen und verursachte eine neue Hustenattacke. Etwas griff nach ihm. Der Schmerz war unerträglich.
Er schrie. Sein Körper wurde gewaltsam herausgezerrt. Plötzlich spürte er Wasser auf seinem Gesicht. Regen. Er sah die Konturen des Wagens, als er weggezogen wurde. Das eingedellte Dach und die zusammengedrückte Kühlerhaube. Hinten schlug ein blauer Funke aus dem Wagen.
Dann wurde er unter einer Hitzewelle begraben.
Als Muhammed und Katherina den Flur erreichten und außer Sichtweite der Teilnehmer waren, fielen sie sich in die Arme.
»Wo wart ihr so lange?«, fragte Katherina.
»Es war nicht ganz einfach, hier reinzukommen«, antwortete Muhammed. »Wir mussten erst mal ein paar Wächter überreden, uns ihre Togas zu leihen.«
»Wo ist Henning?«
»Er sitzt da oben«, sagte Muhammed mit einem Nicken zur Treppe, die in die nächsthöhere Etage führte. »Und liest in irgendeinem Buch, das wir gefunden haben.«
Sie liefen die Treppe hoch und zurück in den Lesesaal. Hier oben waren die Tische und Stühle nicht weggeräumt worden. Die langen Reihen bildeten einen scharfen Kontrast zu dem Durcheinander auf der darunterliegenden Etage. Ungefähr in der Mitte der Galerie, ein paar Meter von der Brüstung entfernt, saß Henning mit einem Buch in den Händen. Als sie näher kamen, hörten sie ihn mit klarer Stimme lesen.
»Achtung!«, sagte Katherina und hielt Muhammed zurück. Eine Flamme huschte über die Buchseiten, aus denen Henning las. »Er ist reaktiviert.«
»Ist das gut?«, fragte Muhammed besorgt.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Katherina. Sie trat näher an Henning heran und musterte sein Gesicht. Er starrte mit einem Blick in das Buch, der viel mehr zu sehen schien als nur die Buchstaben und Wörter. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen, und seine Wangen glühten rot.
»Er ist komplett weggetreten«, stellte Muhammed fest.
»Lass ihn«, sagte Katherina und trat an die Brüstung. Sie befanden sich unmittelbar über dem Rednerpult und konnten von ihrer Position aus die gesamte untere Etage überblicken. Jon las noch immer, offensichtlich unberührt davon, dass um ihn herum zwischen Büchern und Kerzen Menschen am Boden lagen. Aus den elektrischen Installationen schoss in regelmäßigen Abständen Funkenregen durch den Raum, während zwischen Jon und den übrig gebliebenen acht reaktivierten Lettori, die um das Rednerpult herumstanden, hektische Blitze hin und her schossen. Man hätte meinen können, sie speisten sich gegenseitig mit Energie, mal in zufälligen Entladungen, dann wieder einer nach dem anderen wie bei einem Staffellauf.
»Shit«, platzte Muhammed neben Katherina heraus. »Was geht hier eigentlich ab?«
Ehe Katherina ihm antworten konnte, hörten sie ein Scheppern hinter sich. Hennings Körper
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