Die Bibliothek der Schatten Roman
die Kapuze vom Kopf und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie drehte sich langsam um.
Vor ihr stand der rothaarige Mann vom Markt, den Jon soeben als Lucas Mörder entlarvt hatte.
»Kann es sein, dass Sie sich verlaufen haben?«, fragte er mit einem triumphierenden Lächeln.
Katherinas Herz schlug wie wild, sie bekam keine Luft. Ohne den Schutz der Kapuze fühlte sie sich ohnmächtig. Auf einen Schlag hatte sie Hunderte von Menschen gegen sich und keinen Ausweg mehr. Sie hatte versagt.
»Wenn Sie mir bitte folgen würden«, sagte der Rothaarige und zog an ihrer Schulter.
Die Bilder von ihm, die sie von Jon empfangen hatte, blitzten wieder auf, diesmal gefärbt von ihrer eigenen Wut.
Katherina atmete tief ein.
Dann schubste sie den Mann mit einem jähen Stoß von sich. Er taumelte ein paar Schritte rückwärts, ehe er mit einem Schrei auf den Rücken fiel. Mehrere Umstehende drehten sich
verwundert zu ihnen um. Katherina begann aus voller Kehle zu schreien und stieß die Teilnehmer weg, die in ihrer unmittelbaren Nähe standen. Die Ersten wichen erschrocken vor ihr zurück, während sie den Leuten die Bücher entriss und so weit wegschmiss, wie sie nur konnte, schimpfte, trat und schlug um sich und schrie und brüllte, so laut sie konnte. Sie wusste, dass ihr niemand helfen würde, hoffte aber, durch ihr Verhalten die Konzentration der Anwesenden zu stören und Jon auf diese Art Gelegenheit zu geben, die Lesung zu beenden.
Allmählich begannen die Leute um sie herum zu begreifen, was passierte, und immer mehr Hände griffen nach Katherina. Sie riss sich wieder los, wurde aber weiter heftig bedrängt. Aufgeregte Worte hagelten in allen möglichen Sprachen auf sie ein. Am Ende konnte sie sich nicht mehr rühren. Mindestens sechs Personen hielten sie fest, eine siebte versuchte, ihr den Mund zuzuhalten. Sie biss fest zu, worauf ihr jemand ein Buch zwischen die Zähne schob und so ihre Schreie erstickte.
In das laute Stimmengewirr um Katherina mischte sich eine arabische Stimme. Sie gehörte einem Wächter in weißer Kutte, der sich einen Weg durch die aufgebrachte Teilnehmerschar bahnte, während er in beruhigendem, aber autoritärem Ton auf sie einsprach. Er drehte Katherina den Arm brutal im Polizeigriff auf den Rücken, worauf die anderen mit wütenden Blicken von ihr abließen und sich von ihr zurückzogen. Katherina starrte trotzig in die Runde, als der Wächter sie zur Tür schob. Die meisten Anwesenden verfolgten das Schauspiel, aber Jon las weiter und mit ihm die Lettori, die in unmittelbarer Nähe des Rednerpultes standen. Katherinas Verzweiflung wuchs, sie hatte kaum noch die Kraft, sich auf den Beinen zu halten, aber der Wächter schubste sie gnadenlos weiter. Als sie fast die Tür erreicht hatten, versuchte sie ein letztes Mal, sich loszureißen, aber der Mann packte nur fester zu.
»Jetzt hör endlich auf, Mann«, zischte er ihr in seinem unverkennbaren Dänisch zu. »Ich bin’s, Muhammed.«
EINUNDVIERZIG
J on merkte, wie Katherinas Unterstützung abrupt abbrach.
Die Farben in seiner Umgebung verloren schlagartig an Intensität, und die Konturen verschwammen. Er musste härter kämpfen, um die Szenerie am Leben zu halten. Die Friedhofsstimmung wurde massiv abgeschwächt.
Zeitgleich entstand eine heftige Unruhe im Energiefluss. Wo er eben noch für die Intensität der Szene gesorgt hatte, schwankte die Stärke plötzlich in längeren und kürzeren Intervallen. Es kam ihm vor wie ein Transistorsignal, das durch den gesamten Frequenzbereich geht.
Remer hatte es ebenfalls bemerkt, sich aber nicht aus dem Konzept bringen lassen. Er lächelte.
»Kümmern Sie sich nicht darum«, sagte er selbstbewusst. »Wir sind nicht auf die da draußen angewiesen.« Er streckte die Arme seitlich vom Körper weg und wandte das Gesicht zu den Wolken.
Mit einem Mal änderten sich die Farben von oben nach unten, als würde jemand Farbe ausgießen, die wie ein Wasserfall über die Landschaft floss. Die pastelligen Nuancen wurden mit einem Mal so scharf und klar, dass es fast in den Augen schmerzte. Die Grabsteine richteten sich wieder auf und wurden mit Verzierungen versehen, Wasserspeiern und eingravierten Fantasiewesen.
Jon hatte die Kontrolle über die Szenerie verloren. Dieses Spiel war an seinen Widersacher gegangen.
»Nicht schlecht«, sagte er beifällig und mit höhnischem Unterton, um seine Besorgnis zu verbergen. Was war mit
Katherina los? Er hatte nicht genug Kraft, noch länger allein durchzuhalten.
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