Die Blume der Diener
Richtung. Nach vielen falschen Abzweigungen, vielen Rückwegen und einer großen Enttäuschung, als plötzlich alle Wege ihn zu einem trockenen, steinernen Springbrunnen zu führen schienen, den er nie zuvor gesehen zu haben glaubte, trat er nach einer letzten Biegung fort von der Kräutergartenwand in das Innere des Labyrinths.
Weder Blume noch Gras noch Kraut waren bisher auf diesem Stück Land angepflanzt worden; auch gab es keinerlei Ausschmückungen. Das Muster des innersten Irrgartens verlor sich in einem Wald aus Stäben und Seilen. Die Nebelnässen hatten sich inzwischen zu Regen verdichtet. Die Wolken hingen düster über den Türmen und Wipfeln von Cygnesbury und die Wacholderbüsche und das Gras wirkten in dem matten Licht traurig und grau. König Geoffrey stand vor ihm; Königin Constance war an seiner Seite, und sie schauten ihren Sohn mit kummervollen Blicken an.
Wut und großer Überdruss breiteten sich in Lionel aus. »Ich habe meine Pflicht erfüllt, Vater«, weinte er bitterlich. »Ich habe meine Glückseligkeit für Albias Gedeih eingetauscht und schwöre, dass ich meinen Teil des Handels getreulich erfüllen werde. Mein Körper gehört meinem Land, Vater, doch mein Herz gehört mir. Es ist weder an dir noch an irgendeinem anderen Menschen darüber zu urteilen, ob mein Sehnen mich verdammen oder segnen wird. Dieses Urteil bleibt Gott vorbehalten.«
Die Gespenster schwankten und lösten sich im Nebel auf. Während sie verblassten, streckte ihm Königin Constance die Hand entgegen. Lionel glaubte, er spüre die Berührung einer Feder an der Wange. Ein tiefer, zitternder Seufzer schüttelte ihn; er war den Tränen nahe.
Über seinem Herzen knisterte leise ein Pergamentblatt. Lionel zog das Päckchen hervor, das Alyson ihm am Morgen gegeben hatte, und erbrach das Wachssiegel. Ein einfacher Goldring fiel ihm in die Hand. Auf dem Pergament standen einige Worte in Williams fester Schreiberhandschrift:
Meyn Gebiter Herr unnt Küning. Euch laße ich meynen Ring zum Geschenke an Lissaude, Ew. Euch angelobetes Weyb. Mag Ew. Leben mit ihr so gesegenet seyn wie meynes mit jenem Manne, welchselbiger meynem Finger disen Ring a n vertrauete.
Fals Ihr euch mitt dem Gedanken traget, mich zu suchen, so denket nur, daß Elinor Floure tot sey, verbrennet zu Aschenn gemeinsam mit ihrer bösen Mutter, unnt daß nur William Flourens Gespänst die Straßen Ew. König-Reiches abwanderet alleweil biß ihm gewähret wird die ewge Ruh.
Wut überkam ihn als willkommene Ablenkung von seinen Schmerzen. »Ich wünsche dieser Frau die Pocken an den Hals!«, rief Lionel in den lauschenden Nebel hinein. »Anmaßendes Weibsstück!« Wollte sie ihm damit befehlen, Lissaude zu lieben? War diese Frau blind, taub und vollkommen unverständig? Hatte nicht jedes seiner Worte deutlich gemacht, dass er nicht Elinor, sondern William liebte? Was gab ihr das Recht, andere in den Angelegenheiten des Lebens zu unterrichten? Sie selbst hatte sich schließlich zum Abbild ihres toten Mannes gemacht, sich in ihrem Schmerz vergraben und sowohl dem Leben als auch der Liebe entsagt.
Eine Zeit lang starrte Lionel auf den Ring und die Botschaft. Er las sie zweimal, dreimal, und beim vierten Lesen verließ ihn die Wut langsam. Es blieb nur Trauer. Diese Botschaft war ein Beweis für Elinors tiefe Trauer, für ihre tiefe, schwarze Seelenqual, die sie für alle Bedürfnisse und Schmerzen anderer Menschen blind machte. William war nichts anderes als der Diener des Königs von Albia gewesen und Elinor war gleichgültig gegenüber Lionels innersten Herzensangelegenheiten.
Lionel faltete das Pergamentblatt und steckte es in seinen Ärmel; dann warf er einen Blick auf das Innere des abgetragenen Rings. Ein Denkspruch war in ihn eingraviert: »Min Herz weyle in diner Brust.« War das nicht die wahre Bedeutung des Hirsches und der Taube? Hatte nicht Rache, sondern Liebe sie an Hartwick gebunden? Band nicht Liebe Elinor an die Toten?
Ob aus Liebe oder Rache – das Leben, das sie für sich gewählt hatte, war gar nicht so schlecht. Sie hatte einen Diener zur Aufwartung und als Begleitung und war frei, dorthin zu gehen, wo immer sie hingehen wollte, und sich ihren Unterhalt mit ihrer Hände Arbeit zu verdienen. Viele Männer würden ein solches Leben den Banden von Familie und Vaterland vorziehen. Auch Lionel spürte den Ruf der Freiheit. Er lächelte reumütig und steckte sich den Ring an den kleinen Finger. Er passte tatsächlich; Elinor hatte große
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