Die Bluterbin (German Edition)
Beifall ertönte von allen Seiten. Die Menge schrie nach Vergeltung.
Tod auf dem Scheiterhaufen. Angebunden an einen rußgeschwärzten Pfahl. Sein Blick suchte Marie, die alles regungslos über sich ergehen ließ und nicht einmal aufsah.
„Wir sind unschuldig“, rief er verzweifelt. „Der wahre Mörder sitzt noch immer unter uns.“ Köpfe fuhren herum und beäugten misstrauisch die jeweiligen Nachbarn. Einen Mörder, der mit dem Teufel im Bund war, mit sich im gleichen Raum zu wissen und vielleicht sogar direkt neben sich stehen zu haben, war äußerst besorgniserregend.
Als im gleichen Moment auch noch ein furchtbares Krachen zu hören war, das die Kathedrale in ihren Grundfesten erbeben ließ, verstummten die Menschen auf einen Schlag und starrten zitternd vor Angst nach oben. Wo soeben noch Tageslicht durch die kostbaren Glasfenster gefallen war, herrschte jetzt tiefschwarze Finsternis. Ein eisiger Lufthauch fuhr durch die Kathedrale und löschte den größten Teil der Kerzen aus. Es war, als wäre der Jüngste Tag gekommen.
Die wenigen Flammen, die noch brannten, verwandelten die Kathedrale in ein unheimliches Gewölbe voller gespenstischer Schatten. Furcht ergriff die Leute, und einige von ihnen drängten schon in Richtung Ausgang, um die Kathedrale zu verlassen, als plötzlich ein gleißender Lichtstrahl durch das Dach der Kathedrale fuhr. Geblendet schlossen die Menschen die Augen, und als sie sie wieder öffneten, konnten sie kaum glauben, was sie sahen.
Inmitten des gleißenden Lichts stand Marie, die Tochter des Tuchhändlers, und bewegte sich nicht. Ihr Blick war nach oben gerichtet, und ein glückliches Lächeln spielte um ihren sanft geschwungenen Mund. Es war ein Wunder. Ehrfürchtig sanken die Menschen auf die Knie und begannen laut zu beten.
Radulfus hingegen zitterte vor Erregung am ganzen Körper. Am liebsten hätte er sich auf Marie gestürzt, um sie den Blicken aller zu entziehen. Sie gehörte ihm, ihm allein. Er wollte aufspringen und zu ihr eilen, doch es gelang ihm nicht, sich zu bewegen.
Und dann erlosch das Licht so plötzlich, wie es gekommen war. Der Himmel wurde wieder hell, und die hereinfallenden Sonnenstrahlen ließen die Glasfenster wieder in allen Farben glitzern und funkeln.
Jean Machaut sah wie gebannt auf seine Tochter, die in diesem Moment das genaue Ebenbild seiner Mutter war, deren sanfte und trotzdem eindringliche Stimme er noch immer im Ohr hatte.
„Es ist Gott, unser Herr, der die Menschen heilt, nicht ich. Ich bin nur Sein Werkzeug. Vor Ihm können wir nicht fliehen, und wenn es Sein Wille ist, wird Er uns beschützen.“ All die Jahre über hatte er sein Herz vor der Wahrheit und der Gnade, die in ihren Worten gelegen hatte, verschlossen, doch jetzt standen sie klar und deutlich vor ihm. Nie gekannte Gefühle erfüllten ihn, und er sank, von unbeschreiblicher Freude überwältigt, auf die Knie. Alle seine Ängste fielen auf einmal von ihm ab und wichen einem tiefen Frieden und großer Dankbarkeit.
„Lasst das Mädchen frei, sie ist unschuldig“, rief jemand, und nach und nach fielen immer mehr Stimmen in die Forderung mit ein. Albertus musste mehrfach schlucken, weigerte sich aber zu glauben, dass Gott ihnen ein Zeichen gesandt hatte. Er suchte nach einer anderen Erklärung für das soeben Geschehene, fand jedoch keine. Stattdessen sah er um sich herum nur lauter bleiche Gesichter, und die Männer des Tribunals mieden seinen Blick. Ein unbehagliches Gefühl kroch in ihm hoch. Trotzig wandte er sich an Marie, die noch immer entrückt und glücklich lächelnd vor ihm stand. „Glaubt ja nicht, dass ich mich von Euren Zauberkünsten täuschen lasse wie dieses ungebildete Volk hier“, zischte er ihr zu. „Ihr habt Euch mit den Mächten der Hölle verbunden, doch das wird Euch nichts nützen, denn ich werde dafür sorgen, dass Ihr der Strafe Gottes nicht entgeht.“
Die Rufe nach Maries Freiheit wurden unterdessen immer lauter, und Albertus wusste, dass er etwas tun musste. Er durfte gar nicht daran denken, was geschehen würde, wenn der Mob erst einmal außer Kontrolle geriet. Mit einer herrischen Handbewegung versuchte er die Menge zum Schweigen zu bringen.
„Das Urteil ist gesprochen und wird vollstreckt, so wahr mir Gott helfe“, begann er hart, der Rest seiner Worte ging in wütenden Rufen unter, die auch dann nicht verstummten, als die Wachen drohend ihre Schwerter erhoben.
„Schafft die Gefangenen zurück in den Turm“, befahl Albertus den Wachen
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