Die Bluterbin (German Edition)
einen Punkt vor ihr gestarrt hatte. Sie entspannte sich ein wenig und betrachtete die offen stehende Zellentüre.
Ob sie versuchen sollte zu fliehen? An den Wachen draußen würde sie eh nicht vorbeikommen. Außerdem hatte Robert recht gehabt. Sie waren bereits lange genug geflohen, und es war an der Zeit, sich dem Bischof zu stellen.
Und wenn Robert stark genug dazu war, würde sie es auch sein.
Marie erhob sich und schloss die Türe. Sie hatte nicht das geringste Verlangen danach, dem Wächter früher als nötig zu begegnen.
Von seiner Unruhe getrieben, stürmte Radulfus durch die Gänge und den Nordturm hinauf. Außer Atem stand er schließlich auf der Plattform und stieß einen triumphierenden Schrei aus. Hier oben würde Satan ihm nichts anhaben können. Die Luft war grau und diesig, und mit dem schwindenden Licht des Tages wurde es zunehmend nebeliger. Ein scharfer Ostwind ließ sein Gewand flattern, und der Himmel war weit weniger von ihm entfernt als sonst und schien mit dem Dach der Kathedrale zu verschmelzen.
Ein schlaues Lächeln zog sich über sein Gesicht. Ich habe dich überlistet, Satan, dachte er frohlockend, dich und deine Höllenhunde.
Doch da tauchte in dem undurchsichtigen Dunst vor ihm ein Schatten auf, der sich langsam auf ihn zubewegte und immer deutlicher wurde. Radulfus’ Gesicht verzerrte sich zu einer von Angst gezeichneten Grimasse. Verzweifelt rang er seine Hände, dann explodierte in seinem Kopf eine rote Wolke, und er sank weinend in sich zusammen.
46
Albertus bereitete sich voller Eifer auf den Prozess vor und richtete sich für die Zeit seiner Anwesenheit im Bischofspalast ein Empfangszimmer im Gästetrakt des Gebäudes ein.
Hier hatte sich jeder einzufinden, der entweder denunziert worden war oder sich durch Selbstanklage zu verantworten hatte. Er sprach mit unzähligen Zeugen, versprach jedem, der ihm weiterhalf, himmlischen Lohn und fieberte dem Tag entgegen, an dem er Gott erneut seine Hingabe und Treue beweisen konnte.
Währenddessen war Bernard ebenfalls nicht untätig geblieben, sondern hatte sofort nach Roberts und Maries Festnahme Jean Machaut aufgesucht.
Jean Machaut wurde blass, als Bernard ihm berichtete, was geschehen war. Seit dem merkwürdigen Besuch des Bischofs in seinem Haus war er beunruhigt gewesen. Er hatte gespürt, dass dieser eine Bedrohung für ihn und seine Familie darstellte, doch er hatte den Gedanken stets wieder verdrängt und war seinen Geschäften weiter nachgegangen. Die Anschuldigungen, die Radulfus nun gegen seine Tochter erhob, waren gefährlich und würden ausreichen, um seinen Ruf für immer zu ruinieren. In aller Eile rief er daher den Stadtrat zusammen und machte seinen ganzen Einfluss geltend, um bei der Zusammenstellung der Schöffen, die für den anstehenden Prozess aus Geistlichen und Laien gebildet wurden, mitentscheiden zu können.
Es war ein sonniger, wenn auch kalter Tag, an dem Robert und Marie aus dem Kerker geholt und in die Kathedrale geschafft wurden. Deren Hauptschiff war, ebenso wie die vier Seitenschiffe, bis auf den letzten Platz besetzt. Während ihn die Wachen durch den Chorumgang zerrten, hatte Robert genug Zeit, um in die Gesichter der Menschen zu blicken, die wie die Schafe im Pferch dicht aneinandergedrängt standen, um nur ja nichts zu verpassen.
Für sie war der Prozess nicht mehr als ein Schauspiel, das ihnen eine willkommene Abwechslung im täglichen Einerlei ihres Lebens bot, und er konnte nirgendwo auch nur das kleinste Zeichen von Mitgefühl in ihren Mienen entdecken. Eine lähmende Müdigkeit nahm von ihm Besitz, und er senkte seinen Blick zu Boden, um nicht mehr länger in all die kalten, abweisenden Gesichter blicken zu müssen.
Danach richtete er seinen Blick nach oben und ließ sich für einen kurzen Moment vom Spiel der Sonnenstrahlen in den kostbaren Glasfenstern gefangen nehmen, deren lichte Weite und unendliche Farbenvielfalt ihn auf seltsame Weise tröstete.
Ein Raunen ging durch die Menge, als Marie hereingeführt wurde. Ihre offensichtliche Schönheit und Unschuld begeisterte die Leute, und man war darauf gespannt, was diesem Mädchen wohl vorgeworfen werden würde.
Vor dem Lettner war ein großer Tisch aufgestellt worden, hinter dem das Tribunal thronte. Wenige Ellen vor dem Tisch blieben die Wachen stehen. Robert musterte die beiden schwarz gekleideten Inquisitoren, die dem Tribunal vorstanden und über sein Schicksal entscheiden sollten. Albertus’ Miene war wie immer unbeweglich und
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