Die Bourne-Identität
einfach weggehen zu einem nicht existierenden Rendezvous und nicht zurückkehren. Und irgendwann im Lauf der nächsten Stunde würde er ihr schreiben:
Es ist vorbei. Ich habe meine Pfeile gefunden. Geh zurück nach Kanada und sag um unser beider willen nichts. Ich weiß, wo ich dich erreichen kann.
Der letzte Satz war unfair - er würde sie nie erreichen -, aber die kleine, gefiederte Hoffnung mußte da sein und wäre es nur, um dafür zu sorgen, daß sie tatsächlich das Flugzeug nach Ottawa bestieg. Mit der Zeit würden ihre gemeinsamen Wochen zu einem dunkel gehüteten Geheimnis verblassen, so wie eine kostbare Kette von Juwelen, die man in stillen Augenblicken herausholte und berührte. Irgendwann würde es vorbei sein, denn man lebte das Leben in aktiven Erinnerungen; die schlafenden verloren ihre Bedeutung.
Niemand wußte das besser als er.
Er ging durch das Vestibül, nickte dem Portier zu, der hinter der Marmortheke auf seinem Hocker saß und eine Zeitung las. Der Mann blickte kaum auf, registrierte nur, daß der Eindringling hierher gehörte.
Die Liftkabine polterte und ächzte ins fünfte Stockwerk. Jason atmete tief und griff nach der schmiedeeisernen Lifttüre; in allererster Linie mußte vermieden werden, die Szene zu dramatisieren - weder durch Worte noch durch Blicke. Er wußte, was er sagen mußte; er hatte sorgfältig darüber nachgedacht, ebenso sorgfältig wie über den Brief, den er schreiben würde.
»Den größten Teil der Nacht herumgelaufen«, sagte er und hielt sie an sich gedrückt. Er strich über ihr dunkelrotes Haar, spürte ihren Kopf an seiner Schulter .... und litt, »hinter fahlgesichtigen Angestellten hergelaufen, mir Unsinn angehört und Kaffee getrunken, der wie Spülwasser schmeckte. Les Classiques war Zeitvergeudung; das ist der reinste Zoo. Die Affen und die Pfauen haben eine grandiose Schau abgezogen, aber ich glaube nicht, daß irgend jemand dort etwas weiß. Die Möglichkeit besteht natürlich. Es gibt dort einen Mann, der an der Telefonzelle sitzt, aber ebensogut ein cleverer Franzose sein kann, der sich einfach einen Amerikaner, den er ausnehmen kann, als Opfer sucht. Ich will mich mit ihm gegen Mitternacht am Bastringue an der Rue Hautefeuille treffen.«
»Was hat er gesagt?«
»Sehr wenig, aber genug, um mein Interesse zu wecken. Ich sah, daß er mich beobachtete, während ich Fragen stellte. Der Laden war ziemlich voll, und ich konnte mich daher einigermaßen frei bewegen und mit den Angestellten sprechen.«
»Fragen? Was für Fragen hast du denn gestellt?«
»Alles, was mir in den Sinn kam. Hauptsächlich über die Geschäftsführerin oder wie man sie nennt. In Anbetracht dessen, was heute nachmittag geschah, hätte sie - wenn sie eine Verbindungsperson zu Carlos ist - fast hysterisch sein müssen. Ich habe sie gesehen. Sie war keineswegs hysterisch; sie verhielt sich völlig normal.«
»Aber d'Amacourt glaubt, daß sie eine Verbindungsperson ist, wie du das nennst.«
»Indirekt. Sie bekommt einen Anruf, wo sie Instruktionen erhält.« Tatsächlich, dachte Jason, beruhte die von ihm erfundene Einschätzung der Situation auf Wirklichkeit. Jacqueline Lavier war eine indirekte Verbindungsperson.
»Du konntest doch nicht einfach herumgehen und Fragen stellen, ohne Argwohn zu erwecken«, wandte Marie ein.
»Doch das kann man«, antwortete Bourne, »wenn man amerikanischer Journalist ist und für ein bekanntes Magazin einen Artikel über die Geschäfte an der Rue Saint-Honore schreibt.«
»Das ist raffiniert, Jason.«
»Es hat funktioniert. Alle waren ganz wild darauf.«
»Was hast du erfahren?«
»Nun, Les Classiques hat wie die meisten Geschäfte dieser Art seinen eigenen Kundenkreis, alles wohlhabende Leute, die sich untereinander meistens kennen. Da gibt es natürlich auch die üblichen Intrigen und Heimlichkeiten, die in dieser Szene auf der Tagesordnung stehen. Hauptsächlich dieser Bergeron und die Geschäftsführerin scheinen Schlüsselfiguren zu sein. Nach allem, was ich erfahren habe, ist sie geradezu eine Fundgrube für gesellschaftliche Informationen.«
»Warum gehst du eigentlich heute nacht nach Bastringue?«
»Als ich hinausgehen wollte, kam Bergeron auf mich zu und sagte etwas sehr Seltsames.« Diesen Teil der Lüge brauchte Jason nicht zu erfinden. Er hatte die Worte vor nicht einmal einer Stunde in einem eleganten Restaurant in Argenteuil auf einem Zettel gelesen. »Er hat gesagt, >mag sein, daß Sie sind, was Sie vorgeben, vielleicht
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