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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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oder zwölf Sekunden gehabt, den Schrecken aufzufangen. Ich rede nicht nur von dem rätselhaften Umstand, dass er als Aushilfe in einem Antiquariat arbeitete, sondern auch von seinem völlig veränderten Äußeren. Tom hatte immer zur Korpulenz geneigt. Er war mit der grobknochigen Statur eines Bauern geplagt, die mühelos große Gewichte tragen konnte – ein genetisches Geschenk seines verschwundenen, mehr oder weniger alkoholsüchtigen Vaters   –, aber trotzdem war er, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, relativ gut in Form gewesen. Stämmig, das ja, aber doch muskulös und kräftig, mit athletisch federndem Gang. Jetzt, sieben Jahre später, hatte er gut fünfzehn bis zwanzig Kilo zugelegt und machte einen ausgesprochen pummeligen Eindruck. Wo früher ein Kinn gewesen war, hatte er jetzt zwei, und sogar seine Hände waren dick und rund, wie man es oft bei älteren Klempnern sieht. Wahrlich ein trauriger Anblick. Das Funkeln in den Augen meines Neffen war erloschen, seine ganze Erscheinung ein Bild des Scheiterns.
    Als die Kundin ihr Buch bezahlt hatte, schob ich mich dorthin, wo sie eben gestanden hatte, legte meine Hände auf die Theke und beugte mich vor. Tom bückte sich gerade nach einer Münze, die auf den Boden gefallen war. Ich räusperte mich und sagte: «Hallo, Tom. Lange nicht gesehen.»
    Mein Neffe sah auf. Anfangs schien er völlig verwirrt, und ich fürchtete schon, er hätte mich nicht erkannt. Dann aber trat ein Lächeln auf sein Gesicht, und als es immer breiter wurde, erkannte ich erleichtert, dass es noch seinaltes Lächeln war. Mit einer kleinen Beimischung von Melancholie, mag sein, aber ich sah, dass er doch nicht so verändert schien, wie ich befürchtet hatte.
    «Onkel Nat!», rief er. «Was zum Teufel treibst du in Brooklyn?»
    Ehe ich antworten konnte, stürzte er hinter der Theke hervor und schlang seine Arme um mich. Zu meiner nicht geringen Verwunderung füllten sich meine Augen mit Tränen.

ABSCHIED VOM HOF
    N och am selben Tag lud ich ihn zum Essen im Cosmic Diner ein. Die prächtige Marina brachte uns Truthahn-Sandwiches und Eiskaffee, und ich flirtete ein wenig aggressiver mit ihr als gewöhnlich, vielleicht weil ich Tom beeindrucken wollte, vielleicht auch einfach, weil ich so überschwänglich war. Mir war nicht bewusst gewesen, wie sehr ich den guten Dr.   Thumb vermisst hatte, und jetzt stellte sich heraus, dass wir Nachbarn waren – der Zufall wollte es, dass wir nur zwei Blocks voneinander entfernt im alten Königreich Brooklyn, New York, lebten.
    Er arbeite seit fünf Monaten in Brightman’s Attic, erzählte er, und ich hätte ihn nur deshalb nicht schon früher gesehen, weil er sonst immer oben an den monatlichen Katalogen der Rara arbeite, was ein wesentlich lukrativeres Geschäft sei als der Handel mit gebrauchten Büchern im Erdgeschoss. Tom war kein Verkäufer, und er saß sonst nie an der Kasse, aber der eigentliche Verkäufer hatte an diesem Vormittag einen Arzttermin, und Harry hatte Tom gebeten, solange für ihn einzuspringen.
    Der Job sei nichts Besonderes, fuhr Tom fort, aber immer noch besser als Taxi fahren, was er gemacht habe, seit er nach dem Abbruch seines Studiums nach New York zurückgekehrt sei.
    «Wann war das?», fragte ich und suchte meine Enttäuschung so gut es ging zu verbergen.
    «Vor zweieinhalb Jahren», sagte er. «Ich habe meine Kurse alle abgeschlossen und die mündlichen Prüfungenabsolviert, aber dann bin ich in der Dissertation stecken geblieben. Ich habe mich übernommen, Onkel Nat.»
    «Sag nicht dauernd
Onkel Nat
, Tom. Sag einfach Nathan zu mir, wie jeder andere auch. Seit deine Mutter tot ist, komme ich mir nicht mehr wie ein Onkel vor.»
    «Also gut, Nathan. Aber mein Onkel bist du trotzdem, ob du willst oder nicht. Tante Edith ist wohl nicht mehr meine Tante, nehme ich an, aber selbst wenn sie jetzt zur Extante degradiert ist, ist Rachel immer noch meine Cousine, und du bist immer noch mein Onkel.»
    «Sag einfach Nathan zu mir, Tom.»
    «Mach ich, Onkel Nat, versprochen. Von jetzt an werde ich immer Nathan zu dir sagen. Zum Ausgleich möchte ich, dass du Tom zu mir sagst. Nicht mehr Dr.   Thumb. Abgemacht? Das ist mir peinlich.»
    «Aber so habe ich dich immer genannt. Schon als du ein kleiner Junge warst.»
    «Und ich habe dich immer Onkel Nat genannt.»
    «Du hast Recht. Ich gebe mich geschlagen.»
    «Glass und Wood sind in ein neues Zeitalter eingetreten, Nathan. Das post-familiäre, post-studentische,

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