Die Brücke am Kwai
getrieben, es hinzunehmen, daß sie von der Arbeit befreit werden. Ich werde diese Güte als eine Schwäche betrachten, wenn er in seiner Haltung verharrt.«
Nach diesen drohenden Worten entließ er ihn, und Clipton wurde vor den Gefangenen geführt. Er war zuerst fassungslos und erschüttert über die Verfassung, in die sein Chef gekommen war, und ebenso über den körperlichen Verfall, den sein Organismus in so kurzer Zeit erlitten hatte.
Der Ton seiner kaum vernehmbaren Stimme wirkte wie ein fernes und ersticktes Echo jener gebieterischen Sprache, die der Arzt noch im Ohr hatte. Aber das waren nur Äußerlichkeiten. Der Verstand des Obersten Nicholson hatte keine Wandlung erfahren, und die Worte, die er äußerte, waren immer noch die gleichen, obwohl sie in einem anderen Tonfall geäußert wurden. Clipton, der beim Eintreten entschlossen war, ihn zu überreden, nachzugeben, wurde sich darüber klar, daß er keine Aussicht hatte, ihn zu überzeugen.
Er erschöpfte schnell die Argumente, die er sich zurechtgelegt hatte, dann blieb er stecken. Der Oberst stritt nicht einmal mit ihm und sagte schlicht:
»Teilen Sie den andern mit, daß mein Wille unumstößlich ist. Ich kann unter keinen Umständen dulden, daß ein Offizier meines Regiments wie ein Tagelöhner arbeitet.«
Clipton verließ die Zelle, und wieder einmal waren seine Empfindungen in Bewunderung und Empörung gespalten.
Er war voller Zweifel, wie er sich zu dem Verhalten seines Chefs stellen sollte: er schwankte, ob er ihn wie einen Helden verehren oder für einen entsetzlichen Dummkopf halten sollte, und er fragte sich, ob es nicht das beste wäre, Gott den Herrn zu bitten, daß er ihn so schnell wie möglich zu sich rufe und ihm damit den Heiligenschein eines Märtyrers gewähre, ihm, einem gefährlichen Irren, dessen Verhalten die schlimmsten Katastrophen über das Lager am Kwai-Fluß heraufzubeschwören drohte. Saito hatte ungefähr die Wahrheit gesagt. Eine kaum menschlichere Behandlung wurde auch den übrigen Offizieren zuteil, und die Truppe litt in jedem Augenblick unter den Brutalitäten der Wachposten. Als er fortging, dachte Clipton an die Gefahren, die seine Kranken bedrohten.
Saito mußte auf sein Herauskommen gelauert haben, denn er stürzte gleich auf ihn zu, und aus seinen Augen sprach eine echte Besorgnis, als er fragte: »Nun?«
Er war nüchtern. Er wirkte bedrückt. Clipton bemühte sich, zu ermessen, welchen Prestigeverlust die Haltung des Obersten für ihn bedeuten konnte, faßte sich und beschloß, energisch aufzutreten.
»Wieso >nun?< – Oberst Nicholson wird der Gewalt nicht weichen; seine Offiziere ebenfalls nicht, und angesichts der Behandlung, die er erfährt, habe ich ihm nicht geraten, es zu tun.«
Und er protestierte gegen die Behandlung der bestraften Gefangenen, berief sich ebenfalls auf die internationalen Konventionen, dann auf den medizinischen Gesichtspunkt und schließlich auf die einfache Menschlichkeit, wobei er so weit ging, zu verkünden, daß eine so grausame Behandlung einer Ermordung gleichkomme. Er erwartete eine heftige Reaktion, aber sie erfolgte nicht. Saito murmelte nur vor sich hin, dies alles sei die Schuld des Obersten, und verließ ihn überstürzt. Clipton dachte in diesem Augenblick, daß er im Grunde nicht wirklich bösartig sei und daß sich seine Handlungen sehr wohl aus der Anhäufung verschiedener Arten von Furcht erklären ließ: der Furcht vor seinen eigenen Vorgesetzten, die ihm der Brücke wegen zusetzen würden, und der Angst vor seinen Untergebenen, vor denen er »das Gesicht verlor«, da er unfähig zu sein schien, sich Gehorsam zu verschaffen.
Die ihm eigene Neigung zu Verallgemeinerungen brachte Clipton dazu, in dieser Verkettung von Ängsten, der vor den Vorgesetzten und der vor den Untergebenen, die Hauptquelle aller menschlichen Mißgeschicke zu sehen.
Als er diesen Gedanken für sich selber formulierte, schien es ihm, als habe er irgendwo früher einmal eine gleiche Maxime gelesen. Er empfand darüber eine gewisse innere Genugtuung, die seine Erregung ein wenig beschwichtigte. Er ging in seiner Betrachtung noch ein wenig weiter und beendete sie auf der Schwelle zum Lazarett, indem er zu dem Schluß kam, daß diese Mißgeschicke, die wahrscheinlich schrecklichsten der Welt, denen erspart blieben, die weder Vorgesetzte noch Untergebene hatten.
Saito mußte nachdenken. Die Behandlung des Gefangenen wurde in der folgenden Woche gemildert, und am Ende dieser Woche suchte er
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