Doctor Boff - Weiberkranckheiten
1
Bevor er zu den Frauen ging, ging er zu den Heringen. Die alte Kuscher tat wieder so, als könne sie sich nicht entscheiden, klatschte dann einen Fisch auf den Tisch, blickte den Kunden an, danach den Fisch und warf den Fisch ins Fass zurück. Ein Hering war wie der andere, niemand wusste das besser als die Fischfrau, aber sie wollte nicht von ihrem Spiel lassen. Alle Kunden verdrehten die Augen, wenn die Fischfrau ihren Mummenschanz aufführte. Aber wer einmal ihre Wahl angezweifelt hatte, würde dies kein zweites Mal tun.
Dieser Kunde musste nicht befürchten, verdorbene Ware nach Hause zu tragen. Ein Grummeln im Bauch dieses Kunden wäre gleichbedeutend mit der Vertreibung der alten Kuscher gewesen. Natürlich hatte die Frau mit dem gebeugten Rücken keine Angst. Wer einen Bürgermeister mit Hilfe ranziger Barsche drei Tage auf dem Scheißhaus festsetzte, weil er darauf bestanden hatte, einen Sonderpreis zu bekommen, hatte Mut vor den Thronen gezeigt. Die Fischfrau traktierte ihre Kunden mit verdorbenen Fischen, wenn ihr danach war. Aber dieser Kunde hatte ihr geholfen, als sie unter die Fässer eines stürzenden Wagens geraten war. Er hatte dafür gesorgt, dass die meisten Knochen wieder zusammengewachsen waren, wenn auch nicht alle. Krumm war sie geblieben, die Schmerzen waren geblieben, aber sie war am Leben und schaffte es jeden Morgen, sich zu erheben, wenn auch nur mit Hilfe ihrer Tochter.
»Nehmt einfach von oben weg«, forderte Tänzer sie auf. »Ich weiß ja, dass man bei Euch nur einwandfreie Ware erhält.«
Das waren Sätze, die die Fischfrau gern hörte – wenn auch selten. Fischweiber waren nicht dafür bekannt, Expertinnen fürFragen der Wahrheitsfindung und Redlichkeit zu sein – früher nicht und im Jahr 1732 auch nicht.
»Mach hinne«, rief eine gereizte Frauenstimme hinter Tänzer.
Das Fischweib fuhr herum, bereit zum Streit. Aber Tänzer strahlte so viel Güte und Heißhunger auf seinen eingelegten Hering aus, dass sie endlich mit dem Schuppentier zurande kam. Genüsslich den Fisch verspeisend, ließ sich der Stadtarzt durch die Menge treiben. In Halle kannte man den Doctor und grüßte ihn, auch wenn man nicht seine Patientin war. In seiner rituellen Stunde vor Öffnung der Praxis nahm sich Tänzer die Freiheit, manchen Gruß nicht zu erwidern. Der Mann, der seinen Beruf seit drei Jahrzehnten ausübte, musste morgens erst zu sich selbst kommen, bevor er bereit war, sich den Herausforderungen des Tages zu stellen. Es gab niemanden, der ihm dieses Recht streitig machte. Fast jeder hatte eine Frau in der Familie oder in der Nachbarschaft oder im Bekanntenkreis, der Tänzer aus einer Kalamität geholfen hatte.
Wenn das Markttreiben morgens begann und die Kühle der Nacht noch nicht verflogen war, liebte Tänzer seinen Platz, den er unter den vier Fenstern seiner Praxis sehen konnte. Die Saumseligen unter den Händlern legten letzte Hand an den Aufbau, an manchem Stand wurde bereits gefeilscht. Es war, als bräuchten Händler und Kunden die erste Marktstunde, um wach und feurig zu werden.
Jeder Bäcker war für Tänzer eine schwere Prüfung. Von Kindesbeinen war er den süßen Kuchen verfallen, aber sie waren ihm damals schon nicht bekommen und bekamen ihm heute gar nicht mehr. Wenn er schwach wurde, zahlte er dafür mit Leibschmerzen, die Stunden andauerten. Er wusste also, was er tat, als er an den Stand trat und mit dem Finger auf die Küchlein zeigte. Er gönnte sich die Unvernünftigkeit, eine schweigend vorgetragene Schwäche für eine lässlichere Sünde zu halten, als hätte er die Bestellung mit Worten aufgegeben.Der Bäcker kam nicht aus Halle, wie viele Händler zog er aus den umliegenden Dörfern heran. Von der Backstube auf den Kutschbock, vor dem späten Nachmittag würde er nicht zurück sein. Diese Menschen arbeiteten hart, sie hatten einen Anspruch darauf, ohne Ware und mit Geld den Rückweg anzutreten. Tänzer dachte: Deine Ausreden werden immer schwächer. Dann biss er zu.
Bevor er die hundert Schritte zur Praxis absolvierte, stellte er ein Kind, das hinter einem Ochsen stand, auf die sichere Seite; ermahnte die ausgezehrte Tuchhändlerin, mehr zu essen, und sah zu, während er den Kuchen kaute, wie der Hühneraugenschneider den Quälgeist aus dem Ballen eines Patienten schnitt. Er betrachtete Übersetzungen aus dem Italienischen und Französischen und gönnte sich den frivolen Gedanken, was für Gesichter die Menschen wohl machen würden, lägen plötzlich in
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