Die Brüder Karamasow
tollkühne, halsbrecherische. Es hatte sich in diesem Sommer in den Ferien, im Juli, ergeben, daß die Mama mit ihrem Sohn für eine Woche siebzig Werst weit in einen anderen Kreis gefahren war auf Besuch zu einer entfernten Verwandten, deren Mann auf einer Eisenbahnstation angestellt war; es war dies von unserer Stadt aus die nächste Station, dieselbe, von der Iwan Fjodorowitsch Karamasow einen Monat später nach Moskau reiste. Dort besah sich Kolja gleich von vornherein die Eisenbahn aufs genaueste und studierte alle ihre Einrichtungen; denn er sagte sich, daß er zu Hause vor seinen Kameraden auf dem Progymnasium mit seinen neuen Kenntnissen würde glänzen können. Es traf sich, daß er dort einige andere Jungen kennenlernte, manche von ihnen wohnten auf der Station, andere in der Nachbarschaft: lauter junges Volk von zwölf bis fünfzehn Jahren, sechs oder sieben an der Zahl, darunter zufällig auch zwei aus unserem Städtchen. Die Jungen spielten zusammen und trieben allerhand Unfug, bis es dann nach vier oder fünf Tagen unter ihnen zu einer unerhörten Wette um zwei Rubel kam, nämlich: Kolja, der beinahe der jüngste von allen war und darum von den älteren ein bißchen verachtet wurde, vermaß sich aus Ehrgeiz oder unverzeihlicher Tollkühnheit, er wolle sich nachts, wenn der Elfuhrzug komme, mit dem Gesicht nach unten zwischen die Schienen legen und regungslos liegenbleiben, bis der Zug mit Volldampf über ihn hinweggefahren war. Allerdings waren vorher Versuche angestellt worden, aus denen sich ergeben hatte, daß es tatsächlich möglich war, sich zwischen den Schienen so platt hinzulegen, daß der Zug über den Liegenden hinwegfuhr, ohne ihn zu streifen – trotzdem, welche Leistung, so dazuliegen! Kolja behauptete mit aller Bestimmtheit, er werde liegenbleiben. Zuerst lachten die anderen über ihn und nannten ihn einen Aufschneider und Prahlhans, doch dadurch wurde er nur noch mehr angereizt; diese Fünfzehnjährigen waren ihm gegenüber gar zu hochmütig und wollten ihn, den »Kleinen«, zuerst nicht einmal als ihren Kameraden gelten lassen, was denn doch in unerträglichem Grad beleidigend war. So wurde also beschlossen, sich am Abend eine Werst weit von der Station wegzubegeben, damit der Zug nach dem Verlassen der Station schon seine volle Geschwindigkeit erreicht hatte. Die Jungen versammelten sich. Es war eine mondlose, dunkle, fast schwarze Nacht. Zur richtigen Zeit legte sich Kolja zwischen die Schienen. Die fünf übrigen Jungen, die mit ihm gewettet hatten, warteten mit Herzklopfen und zuletzt mit Angst und Reue unten am Bahndamm im Gebüsch. Endlich war von fern der Zug zu hören, der die Station verlassen hatte. In der Dunkelheit blitzten zwei rote Laternen auf; das Ungeheuer nahte lärmend. »Schnell weg von den Schienen!« schrien die Jungen aus dem Gebüsch, halbtot vor Furcht, aber es war schon zu spät. Der Zug jagte heran und sauste vorüber. Die Knaben stürzten zu Kolja: Er lag da und rührte sich nicht. Sie schüttelten ihn und bemühten sich, ihn aufzuheben. Da stand er plötzlich auf und ging schweigend den Bahndamm hinunter. Unten erklärte er, er habe absichtlich wie besinnungslos dagelegen, um ihnen einen Schrecken einzujagen. Die Wahrheit war jedoch, daß er wirklich das Bewußtsein verloren hatte, wie er später, erst lange danach, seiner Mutter auch gestand. Auf diese Weise hatte er den Ruhm der Tollkühnheit als festen Besitz für immer erworben. Leichenblaß kehrte er zur Station zurück. Am anderen Tag erkrankte er an einem leichten Nervenfieber, war aber seelisch sehr heiter, froh und zufrieden. Die Kunde von dem Vorfall verbreitete sich nicht sogleich, sondern erst nach der Rückkehr in unsere Stadt, wo sie auch dem Direktor zu Ohren kam. Koljas Mama eilte schleunigst zu ihm, um für ihren Sohn zu bitten, und erreichte schließlich, daß der allgemein geachtete, einflußreiche Lehrer Dardanelow für ihn eintrat und Fürbitte einlegte; so ließ man denn die Sache auf sich beruhen, als ob nichts geschehen wäre. Dieser Dardanelow übrigens, ein noch nicht alter Junggeselle, war schon seit vielen Jahren leidenschaftlich in Frau Krassotkina verliebt und hatte schon einmal, vor einem Jahr, in der respektvollsten Weise und fast vergehend vor Angst und Zartgefühl gewagt, ihr seine Hand anzubieten; doch sie hatte seinen Antrag rundweg abgelehnt, obwohl Dardanelow, nach einigen geheimen Anzeichen zu schließen, vielleicht sogar ein gewisses Recht hatte zu glauben, daß er der
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