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Ich sehe dich

Titel: Ich sehe dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Clark
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    Das grelle Rot des Fruchtmantels schreit mir seine Warnung ins Gesicht. Doch ich sehe nur die winzigen Samen und das neue, bessere Leben, das sie mir versprechen.
    Immer wieder drücke ich meine Fingernägel in das weiche Fleisch der Eibenfrucht, pule die dunkelbraunen Samen heraus und lege sie auf ein Holzbrettchen. Die Hüllen werfe ich in den Abfall, wo sie sich mit den noch feuchten Kartoffelschalen vermischen. Das Häufchen Samen zerstoße ich mit dem Mörser aus Stein, bis nur noch ein Pulver übrig ist, das auf der klebrigen Kuppe meines Zeigefingers einen schmutzigen Film hinterlässt.
    Seine Hand auf meiner Schulter jagt eine Hitzewelle durch meinen Körper. Ich weiß nicht, wie lange er schon hinter mir steht, und wage kaum zu atmen, fürchte, dass er das Rasen meines Herzens bemerkt.
    »Was machst du?«
    »Curry.« Ich schiebe mit zitternder Hand das Brettchen von mir weg.
    »Curry?« Er tritt neben mich, packt mein Kinn und zwingt mich, ihn anzusehen. Sein Atem riecht nach Schnaps. Sein Blick ist misstrauisch. »Du hast noch nie indisch gekocht.«
    »Du tust mir weh.«
    Er lässt mich los, doch er fixiert mich, als wolle er meine Gedanken lesen.
    »Du lügst.«
    Ich tunke einen Löffel in die brodelnde Soße, führe ihn an meinen Mund, probiere und reiche ihn dann weiter. Meine Hand ist ruhig. Meine Stimme fest.
    »Noch etwas Würze, was meinst du?« Ohne auf seine Antwort zu warten, nehme ich das Brettchen und ein Messer, gebe das tödliche Pulver hinzu und rühre es langsam in seine Lieblingsspeise ein.
    »Du kannst nicht indisch kochen.«
    Schokobraune Pulverfäden durchziehen die Oberfläche wie das Farbspiel eines Kreisels und verschmelzen unaufhaltsam mit dem gelblichen Grundton.
    »Ich hatte nie die richtigen Zutaten.«
    »Du wolltest nie.«
    Ich drehe die Temperatur herunter und ziehe den Holzlöffel aus dem Curry. Die Oberfläche glättet sich und bedeckt mein Geheimnis.
    »Ich wollte dir eine Freude machen.«
    Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie er sich von mir ab- und dem Kühlschrank zuwendet. Gleich wird er einen Schritt machen. Zögernd. Dann noch einen. Die Tür öffnen, vorsichtig, damit die Flaschen nicht klirren, ein Bier herausnehmen, mit dem Feuerzeug den Kronkorken wegschnippen und einen großen Schluck aus der Flasche nehmen.
    Da. Das Plopp. Das leise Klirren des Metalls auf den Küchenfliesen. Schlucken. Stumm zähle ich bis fünf. Dann drehe ich mich zu ihm um. Mit dem Handrücken wischt er sich über die bierfeuchten Lippen.
    »Sind Kartoffeln drin?«
    »Und Hühnerbrust. Freust du dich?«
    Mit einem Schulterzucken schlurft er aus der Küche. Im Türrahmen bleibt er stehen.
    »Ich hätte mir eh ein Curry geholt.«
    Ich lächle ihn an. »Ich weiß.«

Sonntag, 7. Dezember
     

1
    Die junge Frau stand reglos vor dem Grab.
    Er beobachtete, wie ihre Lippen sich bewegten, ein stummes Zwiegespräch, an dessen Ende sie vor dem Grabstein in die Hocke ging und vorsichtig darüberwischte, so als streichelte sie den Stein. Beim Anblick der zärtlichen Geste zuckte er zusammen. Er sah, wie sie vier Rosen auf das Grab legte, dunkelrote Blüten im Weiß des Schnees, und hörte das Rauschen in seinen Adern, das sich zu einem Brausen steigerte und schließlich wild in seinen Schläfen pochte.
    Das hätte mein Grab sein können. Aber mir würde sie keine Rosen bringen .
    Er ballte seine Hände zu Fäusten. Sein Puls beschleunigte sich, die Fingernägel gruben sich tief in seine Haut. Er fühlte den Schmerz und verstärkte den Druck.
    Plötzlich bemerkte er den Mann neben sich.
    »Alles in Ordnung?« Die Hand des Mannes schwebte über seinem Arm, berührte ihn aber nicht. Erst jetzt hörte er sein eigenes Keuchen.
    Ohne dem Mann zu antworten, wandte er sich ab und lief zum Ausgang. Die Abenddämmerung über der Stadt tauchte die Fußgänger in geheimnisvolles Licht, das sie mit ihren eigenen Schatten verschmelzen ließ.
    Verdammt, was ist nur los mit dir, wie kannst du dich so gehenlassen? Willst du alles ruinieren? Hast du vergessen, was sie dir angetan hat?
    Er hatte es nicht vergessen. Fünf Jahre und vier Monate lang hatte er es nicht vergessen. Eintausendneunhundert und einunddreißig Tage. Er legte die rechte Hand über die linke und drückte mit dem Daumen einen Finger nach dem anderen nach unten, bis er das leise Knacken des Gelenkes vernahm.

2
    Lydia spürte, wie die Nässe durch ihre Hose kroch. Trotzdem verharrte sie in der gleichen Position, die Knie auf dem grauen

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