Die Brüder Karamasow
Unten vor der Haustür, wo er am vorigen Tag lärmend auf Andrejs Troika vorgefahren war, standen schon zwei Bauernwagen bereit. Mawriki Mawrikijewitsch, ein untersetzter, stämmiger Mensch mit aufgedunsenem Gesicht, durch irgendeine plötzlich eingetretene Störung gereizt, ärgerte sich und schrie. In recht barschem Ton forderte er Mitja auf, einzusteigen. ›Früher, wenn ich ihn im Restaurant mit Getränken freihielt, machte dieser Mensch ein anderes Gesicht‹, dachte Mitja, während er einstieg. Auch Trifon Borissowitsch kam die Stufen vor der Haustür herunter. Am Tor drängte sich allerlei Volk, Bauern, Frauen, Fuhrleute; alle starrten Mitja an.
»Lebt wohl, liebe Leute!« rief ihnen Mitja vom Wagen aus zu.
»Verzeih auch du uns!« ließen sich zwei oder drei Stimmen vernehmen.
»Leb auch du wohl, Trifon Borissowitsch!«
Doch Trifon Borissowitsch drehte sich nicht einmal um, vielleicht hatte er zu viel zu tun. Er schrie ebenfalls etwas und war in geschäftiger Eile. An dem zweiten Wagen, auf dem zwei Dorfpolizisten Mawriki Mawrikijewitsch begleiten sollten, war nämlich noch nicht alles in Ordnung. Der Bauer, der für die zweite Troika als Kutscher beordert war, zog erst langsam seinen Kittel an und schimpfte heftig, er sei nicht an der Reihe zu fahren, sondern Akim. Aber Akim war nicht da; jemand war gelaufen, ihn zu holen, und der Bauer sträubte sich hartnäckig und bat, man möchte noch ein bißchen warten.
»Das Volk bei uns ist zu unverschämt, Mawriki Mawrikijewitsch!« rief Trifon Borissowitsch. »Akim hat dir vorgestern einen Viertelrubel gegeben, den hast du vertrunken, und nun machst du Geschrei! Ich staune nur über Ihre Geduld, Mawriki Mawrikijewitsch, weiter sage ich nichts!«
»Wozu brauchen wir denn überhaupt eine zweite Troika?« mischte sich Mitja ein. »Laß uns doch mit einer fahren, Mawriki Mawrikijewitsch. Sei unbesorgt, ich werde mich nicht widersetzen und dir nicht weglaufen. Wozu brauchst du einen ganzen Begleitschutz?«
»Lernen Sie gefälligst, wie Sie mit mir zu reden haben, mein Herr, wenn Sie das noch nicht wissen sollten. Ich bin nicht Ihr Du! Erlauben Sie sich nicht, mich zu duzen. Und auch Ihre Ratschläge können Sie für sich behalten ...«, schnitt ihm Mawriki Mawrikijewitsch wütend das Wort ab, als ob er sich freute, seinen Ärger an ihm auslassen zu können.
Mitja schwieg. Er war ganz rot geworden. Einen Augenblick darauf wurde ihm auf einmal sehr kalt. Der Regen hatte aufgehört, aber der trübe Himmel war ganz mit Wolken bedeckt, und ein scharfer Wind blies Mitja ins Gesicht. ›Ich habe wohl einen Fieberanfall‹, dachte er und schüttelte die Schultern. Endlich stieg auch Mawriki Mawrikijewitsch ein. Er setzte sich schwerfällig und breit hin und schien gar nicht zu beachten, daß er Mitja durch seinen Körper stark bedrängte. Er war schlechter Laune, denn der ihm erteilte Auftrag mißfiel ihm sehr.
»Lebe wohl, Trifon Borissowitsch!« rief Mitja noch einmal und fühlte, daß er es jetzt nicht aus Gutmütigkeit getan hatte, sondern unwillkürlich, aus Bosheit.
Doch Trifon Borissowitsch stand stolz da, beide Hände auf dem Rücken, und starrte Mitja mitten ins Gesicht. Er machte eine strenge, ärgerliche Miene und antwortete nicht.
»Leben Sie wohl, Dmitri Fjodorowitsch, leben Sie wohl!« erscholl plötzlich die Stimme Kalganows, der von irgendwo hervorsprang.
Er lief zum Wagen und reichte Mitja die Hand; er hatte keine Mütze auf dem Kopf. Mitja konnte noch seine Hand ergreifen und sie ihm drücken.
»Lebe wohl, du lieber Mensch! Ich werde deine Hochherzigkeit nicht vergessen! » rief er bewegt. Doch der Wagen fuhr an, und ihre Hände wurden auseinandergerissen. Das Glöckchen des Mittelpferdes klingelte – Mitja wurde abtransportiert.
Kalganow aber lief in den Hausflur, setzte sich in eine Ecke, ließ den Kopf sinken, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte los. Lange saß er so da und weinte, als sei er noch ein kleiner Junge und kein Mann von zwanzig Jahren. Er war von Mitjas Schuld fast vollkommen überzeugt. ›Aber was sind das für Menschen, was soll man da von der Menschheit denken!‹ fragte er sich zutiefst betrübt und beinahe verzweifelt. Er mochte in diesem Augenblick überhaupt nicht mehr auf dieser Welt leben. »Lohnt es sich denn, lohnt es sich?« rief der junge Mann in seinem Kummer.
Vierter Teil
Zehntes Buch
Die Jungen
1. Kolja Krassotkin
Es war Anfang November. Wir hatten elf Grad Kälte und damit auch Glatteis. Auf die
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