Die Brueder Karamasow
Sekundanten fand ich rasch, einen Leutnant aus, unserem Regiment. Obwohl Duelle damals streng bestraft wurden, waren sie doch beim Militär geradezu Mode, so festgewurzelt sind manchmal veraltete rohe Bräuche. Es war Ende Juni, und unsere Begegnung sollte am folgenden Tage um sieben Uhr morgens vor der Stadt sein. Da passierte mir etwas, was in Wahrheit wie eine Fügung des Schicksals aussah. Als ich am Abend in wütender, widerwärtiger Stimmung nach Hause zurückkehrte, ärgerte ich mich über meinen Burschen Afanassi und schlug ihn mit voller Kraft zweimal ins Gesicht, daß er blutete. Er diente mir schon lange, und es war auch früher schon vorgekommen, daß ich ihn schlug, doch niemals so roh. Werdet ihr es glauben, liebe Freunde? Vierzig Jahre sind seitdem vergangen; trotzdem denke ich auch jetzt nur mit qualvoller Scham daran zurück! Ich legte mich ins Bett und schlief drei Stunden, als ich erwachte, brach der Tag schon an. Ich erhob mich sogleich. Ich mochte nicht mehr schlafen, trat ans Fenster, öffnete es und sah hinaus. Vor meinem Fenster befand sich ein Garten, die Sonne ging warm und schön auf, und die Vögel zwitscherten. ›Woher‹, dachte ich, ›kommt bloß dieses ekelhafte, schmähliche Gefühl in meinem Herzen? Kommt es, weil ich hingehe, um, Blut zu vergießen? Nein‹, dachte ich, ›davon scheint es nicht zu kommen. Oder weil ich mich vor dem Tod fürchte? Mich fürchte, erschossen zu werden? Nein, das ist es auch nicht, das ist es ganz und gar nicht!‹ Und auf einmal wußte ich, woher es kam: weil ich am Abend Afanassi geschlagen hatte! Alles trat mir plötzlich erneut vor Augen, als ob es sich noch einmal wiederholte. Er steht vor mir, und ich schlage ihn, weit ausholend, mitten ins Gesicht. Er hält die Hände an die Hosennaht, den Kopf gerade, die Augen weit geöffnet wie im Glied; bei jedem Schlag fährt er zusammen, wagt aber nicht einmal die Hand zu heben, um sich zu schützen ... Ein Mensch hat sich so tief erniedrigt, ein Mensch schlägt einen Menschen! Welch ein Verbrechen! Wie eine spitze Nadel ging es mir durchs Herz! Ich stand wie betäubt da; die Sonne aber leuchtete, die Blätter glänzten fröhlich, und die Vögel, die kleinen Vögel, priesen Gott. Ich bedeckte mein Gesicht mit den Händen, warf mich aufs Bett und brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus. Und da fiel mir mein Bruder Markel ein und die Worte, die er vor seinem Tod zu den Dienstboten gesprochen hatte: »Meine Lieben, Teuren, weswegen dient ihr mir? Weswegen liebt ihr mich? Bin ich es denn wert, daß ihr mir dient?« ›Ja, bin ich es denn wert?‹ schoß es mir auf einmal durch den Kopf. ›In der Tat, wodurch bin ich es denn wert, daß ein anderer Mensch, ein Mensch wie ich, nach Gottes Bild geschaffen, mir dient?‹ Diese Frage bohrte damals zum erstenmal in meinem Leben in meinem Gehirn. »Liebe Mutter, du mein Blutströpfchen, wahrlich, ein jeder trägt allen gegenüber an allem Schuld, das wollen die Menschen nur nicht wahrhaben. Doch wenn sie es wahrhaben würden, wäre sofort das Paradies da!« ›Herrgott‹, dachte ich unter Tränen, das ist ja auch wahr! Ich bin wirklich an den Sünden aller mehr schuld als alle und bin auch schlechter als alle Menschen auf der Welt!‹ Und auf einmal trat mir die ganze Wahrheit in voller Deutlichkeit vor Augen. Was bin ich im Begriff zu tun? Ich gehe hin, um einen guten, verständigen, edeldenkenden Menschen zu töten, der mir nie etwas zuleide getan hat, dessen Gattin ich dadurch für ihr Leben unglücklich mache! So lag ich auf dem Bett, mit dem Gesicht auf dem Kissen, und bemerkte gar nicht, wie die Zeit verging. Auf einmal trat mein Kamerad, der Leutnant, mit den Pistolen herein, um mich abzuholen. »Das ist gut«, sagte er, daß du schon aufgestanden bist. Es ist Zeit, wir wollen gehen!« Ich lief unruhig hin und her und war ganz fassungslos; dann gingen wir hinaus, um in den Wagen zu steigen. »Warte einen Augenblick«, sagte ich. »Ich muß nur schnell noch etwas holen, ich habe etwas vergessen.« Ich lief in die Wohnung zurück, in Afanassis Kammer. »Afanassi«, sagte ich, »ich habe dich gestern zweimal ins Gesicht geschlagen, verzeih mir!« Er fuhr richtig zusammen, als ob er einen Schreck bekäme, und starrte mich an. Ich sah ein, daß das noch zuwenig, viel zuwenig war. Und warf mich, so wie ich war, mit den Epauletten auf den Achseln, ihm zu Füßen. »Verzeih mir!« sagte ich. Da war er nun völlig bestürzt. »Euer Wohlgeboren«, sagte er.
Weitere Kostenlose Bücher