Die Brueder Karamasow
ich so nicht fortfahren kann, schon deswegen nicht, weil ich vieles nicht deutlich gehört, anderes nicht immer richtig verstanden, wieder anderes vergessen habe, hauptsächlich aber weil ich weder Zeit noch Raum genug habe, um alles, was gesagt wurde und was vorging, lückenlos anführen zu können. Ich weiß nur, daß von der einen und von der anderen Partei, das heißt vom Verteidiger und vom Staatsanwalt, nicht sehr viele Geschworene abgelehnt wurden. Die Zusammensetzung der Geschworenenbank habe ich im Gedächtnis behalten: vier von unseren Beamten, zwei Kaufleute und sechs Bauern und Kleinbürger aus unserer Stadt. Ich erinnere mich, schon lange vor der Gerichtsverhandlung hatten bei uns viele Leute und besonders die Damen mit einiger Verwunderung gefragt: »Wird in so einer subtilen, komplizierten, psychologisch schwierigen Sache die verhängnisvolle Entscheidung wirklich irgendwelchen Beamten und Bauern überlassen? Was versteht denn ein Beamter oder gar ein Bauer davon?« Tatsächlich waren diese vier Beamten, die da unter die Geschworenen geraten waren, sämtlich kleine Leute von niedrigem Rang. Sie waren schon grauhaarig, nur einer von ihnen war etwas jünger; in unserer Stadt kannte man sie nur wenig: Sie vegetierten bei geringem Gehalt so dahin und hatten gewiß alte Frauen, die sie nirgends präsentieren konnten, und dazu einen Haufen barfüßiger Kinder. In ihrer Freizeit vergnügten sie sich wohl höchstens irgendwo beim Kartenspiel und lasen natürlich niemals ein Buch. Die beiden Kaufleute machten zwar einen soliden Eindruck, waren jedoch eigenartig schweigsam und regungslos; der eine von ihnen hatte ein glattrasiertes Gesicht und trug einen Anzug nach deutscher Fasson; der andere, mit leicht ergrautem Bärtchen, hatte am Hals irgendeine Medaille an einem roten Band hängen. Über die Kleinbürger und die Bauern ist überhaupt nichts zu sagen. Die Kleinbürger in unserem Skotoprigonewsk sind ja beinahe selber Bauern, sie pflügen sogar. Zwei von ihnen trugen ebenfalls deutsche Tracht und sahen infolgedessen womöglich schmutziger und unansehnlicher aus als die übrigen vier. So konnte einem wirklich der Gedanke kommen, der zum Beispiel mir bei ihrem Anblick sofort kam: Was können diese Menschen von einer solchen Sache verstehen? Trotzdem zeigten ihre Gesichter einen eigentümlich gespannten, beinahe drohenden Ausdruck; sie sahen streng und finster aus.
Endlich kündigte der Präsident an, nunmehr komme zur Verhandlung die Sache betreffend die Ermordung des Titularrates a. D. Fjodor Pawlowitsch Karamasow – ich erinnere mich nicht genau, wie er sich damals ausdrückte. Der Gerichtsinspektor erhielt den Befehl, den Angeklagten hereinzuführen. Mitja erschien. Im Saal wurde es ganz still, man hätte eine Fliege hören können. Ich weiß nicht, wie es den anderen ging; aber auf mich machte Mitjas Äußeres einen höchst unangenehmen Eindruck. Die Hauptsache war, daß er wie ein Geck auftrat, in einem nagelneuen Rock. Ich erfuhr später, daß er sich den Rock extra für diesen Tag in Moskau hatte machen lassen bei seinem früheren Schneider, der noch seine Maße hatte. Er trug neue schwarze Glacéhandschuhe und elegante Wäsche. Er kam mit seinen langen Schritten herein, gerade und starr vor sich hin blickend, und setzte sich mit furchtloser Miene auf seinen Platz. Dann erschien sogleich auch der Verteidiger, der berühmte Fetjukowitsch, und ein unterdrücktes Murmeln schien durch den Saal zu gehen. Er war ein langer, hagerer Mensch, mit langen, dünnen Beinen und außerordentlich langen, blassen, schlanken Fingern, mit glattrasiertem Gesicht, schlicht gekämmtem, ziemlich kurzem Haar und schmalen Lippen, die sich bisweilen spöttisch lächelnd verzogen. Dem Äußeren nach zu urteilen, mochte er etwa vierzig Jahre alt sein. Sein Gesicht wäre ganz angenehm gewesen, wenn nicht die ziemlich kleinen, ausdruckslosen Augen auffällig nahe beieinander gestanden hätten, nur durch das schmale Knöchelchen der länglichen Nase getrennt. Kurz, seine Physiognomie hatte eine geradezu frappierende Ähnlichkeit mit einem Vogelkopf. Er trug einen Frack und eine weiße Halsbinde. Ich erinnere mich an die erste Frage, die der Präsident an Mitja richtete, nämlich nach Namen, Stand und so weiter. Mitja antwortete kurz und bündig, aber mit unerwartet lauter Stimme, so daß der Präsident den Kopf schüttelte und ihn verwundert ansah. Darauf wurde das Verzeichnis der Personen verlesen, die zur Verhandlung als Zeugen
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