Die Brüder Karamasow
späteren Leben), daß er nicht über die Menschen richten und sie um keinen Preis verdammen wolle. Da er unter keinen Umständen jemand verdammte, schien es sogar, als halte er alles für berechtigt, obgleich er oft tieftraurig war. Mehr noch: in diesem Sinn ging er so weit, daß ihn niemand erstaunen oder erschrecken konnte, und das schon seit seiner frühesten Jugend. Als er mit zwanzig Jahren zu seinem Vater kam und geradezu in eine schmutzige Lasterhöhle geriet, entfernte er sich immer nur schweigend, wenn er in seiner Reinheit etwas nicht mehr mit ansehen konnte, aber ohne das geringste Zeichen von Verachtung oder Verdammung für irgendwen. Sein Vater, der als ehemaliger Kostgänger ein feines Ohr für Beleidigungen besaß, war ihm gegenüber zwar anfangs mißtrauisch und mürrisch (»Der schweigt mir zuviel und denkt zuviel im stillen«), ließ das aber bald, schon nach etwa vierzehn Tagen, und begann Ihn schrecklich oft zu umarmen und abzuküssen. Trotz aller Säufertränen und der Betrunkenenrührseligkeit sah man doch, daß er ihn so tief und aufrichtig liebgewonnen hatte, wie es wohl niemand von seinem Schlag gelingen würde.
Alle Menschen liebten diesen Aljoscha; das war so schon von seinen Kinderjahren an. Als er im Hause seines Wohltäters und Erziehers Jefim Petrowitsch Poljonow lebte, nahm er dessen gesamte Familie derart für sich ein, daß man ihn wie ein eigenes Kind behandelte. Und er war so jung in dieses Haus gekommen, daß man bei ihm weder berechnende Schlauheit und Intrigantentum erwarten konnte noch die Kunst, sich einzuschmeicheln und andere zu gewinnen. Die Gabe, sich besondere Zuneigung zu erwerben, war ungekünstelt, unmittelbar, sie machte gleichsam einen Teil seiner Natur aus. Ebenso erging es ihm in der Schule, eigentlich gehörte er doch gerade zu jenen Kindern, die bei ihren Kameraden Mißtrauen, manchmal Spottlust, wenn nicht gar Haß erwecken. Er war ein Grübler und sonderte sich oft von den anderen ab. Er zog sich von Kindheit an gern in einen Winkel zurück und las, und trotzdem schätzten ihn seine Kameraden derart, daß man ihn als Liebling aller bezeichnen konnte. Selten war er ausgelassen, selten auch nur lustig; aber alle sahen mit einem Blick, das zeugte durchaus nicht von Mißmut, sondern von Ausgeglichenheit und Ruhe. Er wollte sich unter seinen Altersgenossen nicht hervortun und fürchtete sich vielleicht gerade deshalb vor keinem. Die Knaben merkten indes sofort, daß er sich mit seiner Furchtlosigkeit nicht brüstete: Er schien sich seiner Kühnheit und Unerschrockenheit gar nicht bewußt zu sein. Beleidigungen vergaß er rasch. Es kam vor, daß er einem, der ihn gekränkt hatte, nach einer Stunde so vertrauensvoll und ruhig antwortete oder selbst ein Gespräch mit ihm anfing, als wäre überhaupt nichts zwischen ihnen vorgefallen. Nie hatte es in solchen Fällen den Anschein, er hätte die Beleidigung zufällig vergessen oder absichtlich verziehen; er hielt sie einfach nicht für eine Beleidigung, und das besonders entwaffnete die Kameraden und unterwarf sie ihm. Ein Charakterzug aber erregte von der untersten Klasse des Gymnasiums bis zur obersten die Necklust seiner Kameraden, nicht aus Bosheit, sondern weil es sie amüsierte. Das war seine ungekünstelte, fanatische Schamhaftigkeit. Er konnte gewisse Worte und Gespräche über Frauen nicht vertragen, und diese »gewissen« Worte und Gespräche sind in den Schulen leider unausrottbar. Knaben, unverdorben und fast noch Kinder, reden zuweilen in den Klassen ganz laut von Dingen, von denen nicht einmal Soldaten sprechen; ja, die Soldaten wissen und verstehen oft vieles nicht, was auf diesem Gebiet schon den jungen Kindern unserer gebildeten höchsten Gesellschaftskreise bekannt ist. Moralische Verderbtheit braucht das nicht zu sein, auch nicht echter, im Innersten schamloser Zynismus; es ist ein äußerlicher Zynismus, der als interessant oder elegant, als forsch und nachahmenswert gilt. Als die Kameraden sahen, daß sich Aljoschka Karamasow die Ohren zuhielt, sobald sie von »solchen Dingen« zu reden begannen, stellten sie sich manchmal absichtlich dicht um ihn herum, rissen ihm die Hände von den Ohren und schrien die Unanständigkeiten. Aljoscha machte sich frei, ließ sich zu Boden fallen, verbarg sich, ohne ein Wort zu sagen, ohne zu schimpfen: Er ertrug die Beleidigung schweigend. Erst gegen Ende der Schulzeit ließen sie ihn in Ruhe und hänselten »das Mädchen« nicht mehr; sie blickten eher mitleidig auf
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