Die Brüder Karamasow
Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen ... Aber bis dahin muß doch das Banner bewahrt werden. Und ab und zu muß wenigstens ein einzelner ein gutes Beispiel geben und die Seele aus der Isolierung zur Großtat der allgemeinen Bruderliebe hinführen, mag er auch deswegen als ein frommer Narr gelten. Das muß geschehen, damit der große Gedanke nicht stirbt!«
In solchen flammenden Gesprächen verbrachten wir unsere Abende, einen nach dem anderen. Ich ging auch nicht mehr in Gesellschaften und machte viel weniger Besuche als früher, zumal ich auch schon allmählich aus der Mode kam. Ich sage das nicht, um die Menschen zu tadeln, denn sie mochten mich weiterhin und waren freundlich zu mir. Daß aber die Mode tatsächlich eine große Herrscherin in der Welt ist, muß doch zugegeben werden. Auf meinen geheimnisvollen Besucher begann ich mich schließlich richtig zu freuen. Abgesehen von dem Genuß, den mir sein Verstand bereitete, ahnte ich nämlich mittlerweile, daß er in seinem Innern eine bestimmte Absicht hegte und sich vielleicht auf eine große Tat vorbereitete. Vielleicht gefiel ihm an mir auch, daß ich äußerlich keine Neugier nach seinem Geheimnis bekundete, weder durch Fragen noch durch Andeutungen. Aber ich merkte schließlich, daß er sich selbst schon mit dem Wunsch quälte, mir etwas zu gestehen. Zumindest deutete sich das an, nachdem er mich etwa einen Monat lang besucht hatte. »Wissen Sie«, fragte er mich einmal, »daß sich die Leute in der Stadt sehr für uns beide interessieren und sich darüber wundern, daß ich so oft zu Ihnen komme? Nun, sollen sie sich wundern, bald wird alles klarwerden!«
Mitunter befiel ihn eine außerordentliche Erregung, und fast immer stand er in solchen Fällen auf und ging. Manchmal sah er mich lange und gleichsam prüfend an, so daß ich dachte: ›Jetzt wird er mir gleich etwas sagen!‹ Doch dann brach er ab und begann von etwas Belanglosem zu sprechen. Häufig klagte er auch über Kopfschmerzen. Und einmal, als ich es gar nicht erwartet hatte – er hatte lange und voll Begeisterung gesprochen –, sah ich, wie er plötzlich blaß wurde. Sein Gesicht verzerrte sich, und er starrte mich unverwandt an.
»Was haben Sie?« fragte ich. »Ist Ihnen nicht wohl?« Er hatte gerade vorher über Kopfschmerzen geklagt. »Ich, wissen Sie ... ich ... ich habe einen Menschen ermordet.« Nach diesen Worten lächelte er, aber er war kreidebleich. Warum lächelt er? Diese Frage durchbohrte mir plötzlich das Herz, ehe ich etwas begriffen hatte. Ich war selber blaß geworden.
»Was sagen Sie da?« rief ich.
»Sehen Sie«, antwortete er, noch immer mit dem blassen Lächeln, »wie schwer es mir geworden ist, das erste Wort zu sagen. Jetzt habe ich es gesagt, und ich glaube, ich bin auf den richtigen Weg gekommen. Ich werde ihn weitergehen!«
Lange glaubte ich ihm nicht. Und auch dann glaubte ich ihm nicht gleich, sondern erst, nachdem er drei Tage hintereinander zu mir gekommen war und alles ausführlich erzählt hatte. Ich hielt ihn zunächst für geistesgestört; schließlich mußte ich mich aber doch betrübt und erstaunt von der Richtigkeit seiner Selbstbezichtigung überzeugen.
Er hätte vor vierzehn Jahren ein großes, furchtbares Verbrechen an einer reichen, schönen jungen Frau begangen, der Witwe eines Gutsbesitzers, die in unserer Stadt ein eigenes Haus besaß, in dem sie gelegentlich wohnte. Von heftiger Liebe zu ihr ergriffen, machte er ihr eine Liebeserklärung und suchte sie zu einer Heirat zu überreden. Aber sie hatte ihr Herz bereits einem anderen geschenkt, einem vornehmen hohen Offizier, der damals im Felde stand, den sie jedoch bald zurückerwartete. Sie lehnte den Antrag des neuen Bewerbers ab und bat ihn, nicht mehr zu ihr zu kommen. Er stellte seine Besuche auch wirklich ein, aber da er die Einrichtung ihres Hauses kannte, drang er eines Nachts vom Garten aus über das Dach bei ihr ein – ein überaus dreistes Unternehmen, bei dem er sehr leicht hätte ertappt werden können. Indes gelingen erfahrungsgemäß gerade die ungewöhnlich dreisten Verbrechen häufiger als andere. Nachdem er durch ein Dachfenster in den Dachboden eingedrungen war, stieg er auf einer kleinen Treppe zu den Wohnzimmern hinunter, da er wußte, daß die Tür am Ende der Treppe durch die Nachlässigkeit der Diener nicht immer verschlossen war. Er rechnete auch diesmal damit – und sollte recht behalten. In die Wohnzimmer gelangt, ging er im Dunkeln in ihr Schlafzimmer, wo
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