Die Brüder Karamasow
war allgemein geachtet, reich und durch seine Wohltätigkeit bekannt; er hatte eine beträchtliche Summe für das Armenhaus und die Waisenanstalt gespendet und tat außerdem heimlich, ohne davon zu reden, viel Gutes, was erst nach seinem Tod an die Öffentlichkeit kam. Er war etwa fünfzig, hatte ein beinahe strenges Gesicht und war wortkarg. Verheiratet war er erst seit zehn Jahren mit einer jungen Frau, mit der er drei kleine Kinder hatte. Einen Tag nach jener Gesellschaft saß ich abends bei mir zu Hause, als sich auf einmal die Tür öffnete und dieser Herr hereintrat.
Ich muß bemerken, daß ich damals nicht mehr in meiner früheren Wohnung wohnte; sowie ich meinen Abschied eingereicht hatte, war ich umgezogen und hatte mir bei einer alten Beamtenwitwe eine Wohnung mit Bedienung gemietet. Den Umzug hatte ich nur deshalb vorgenommen, weil ich Afanassi noch an dem Tag, als ich von dem Duell zurückkam, zur Kompanie zurückgeschickt hatte. Ich schämte mich nämlich, ihm nach allem, was zwischen uns vorgefallen war, in die Augen zu sehen – so sehr neigt ein grüner Weltmann mitunter dazu, sich sogar seiner gerechtesten Taten zu schämen!
»Ich habe Ihnen schon mehrere Tage lang in verschiedenen Häusern mit großem Interesse zugehört«, sagte der Herr. »Und es ist bei mir der Wunsch aufgetaucht, Sie endlich persönlich kennenzulernen, um mit Ihnen noch eingehender sprechen zu können. Wollen Sie mir diesen großen Gefallen erweisen, mein Herr?« – »Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte ich. »Und ich rechne es mir zur besonderen Ehre an.« Ich hatte jedoch in Wahrheit einen ordentlichen Schreck bekommen – so einen starken Eindruck machte er damals auf mich. Denn obgleich mir die Leute gewöhnlich aufmerksam zuhörten und mich neugierig betrachteten, hatte sich mir noch nie jemand mit so ernster, strenger, nachdenklicher Miene genähert. Und er kam sogar selbst zu mir in die Wohnung.
Er setzte sich. »Ich nehme an Ihnen große Charakterstärke wahr«, fuhr er fort, denn Sie haben sich nicht gescheut, der Wahrheit in einem Falle zu dienen, wo Sie Gefahr liefen, sich für Ihre Wahrheitsliebe die allgemeine Verachtung zuzuziehen.«
»Sie loben mich vielleicht übermäßig«, erwiderte ich.
»Nicht doch, nicht übermäßig«, versetzte er. »Glauben Sie mir, so einen Schritt zu tun ist weit schwerer, als Sie denken. Nur das ist es eigentlich, was mir imponiert hat, und deswegen bin ich zu Ihnen gekommen. Beschreiben Sie mir, wenn Ihnen meine vielleicht ungebührliche Neugier nicht lästig ist und falls Sie sich noch erinnern, was Sie in dem Augenblick empfunden haben, als Sie sich bei dem Zweikampf entschlossen, um Verzeihung zu bitten. Halten Sie meine Frage nicht für leichtfertig. Ich habe vielmehr, wenn ich eine solche Frage stelle, eine geheime Absicht, die ich Ihnen später wohl noch erklären werde – wenn es Gott gefallen sollte, uns einander näherzubringen.«
Während er sprach, hatte ich ihm die ganze Zeit in die Augen gesehen, und plötzlich empfand ich zu ihm das größte Vertrauen und außerdem eine ungewöhnliche Wißbegier: Ich fühlte, daß in seiner Seele ein besonderes Geheimnis verborgen sein mußte.
»Sie fragen, was ich in dem Augenblick empfunden habe, als ich meinen Gegner um Verzeihung bat«, antwortete ich. »Ich will Ihnen aber lieber von Anfang an erzählen, was ich anderen noch nicht erzählt habe.« Und ich berichtete ihm alles, was zwischen mir und Afanassi vorgefallen war.
»Daraus können Sie selbst ersehen«, schloß ich, »daß mir die Bitte um Verzeihung beim Duell bereits leichter wurde, da ich ja schon zu Hause einen Anfang gemacht hatte. Nachdem ich diesen Weg einmal betreten hatte, konnte ich alles Weitere nicht nur ohne Schwierigkeit, sondern sogar freudig und heiter tun!«
Er hatte aufmerksam zugehört und sah mich nun freundlich an.
»Alles das ist außerordentlich interessant«, sagte er. »Und ich werde noch oft zu Ihnen kommen.«
Seitdem besuchte er mich fast jeden Abend. Und wir wären die besten Freunde geworden, wenn er auch über sich selbst gesprochen hätte. Doch über sich redete er fast kein Wort, er fragte mich nur immer über mich aus. Trotzdem schloß ich ihn ins Herz und teilte ihm vertrauensvoll alle meine Empfindungen mit, weil ich mir sagte: ›Wozu muß ich seine Geheimnisse wissen? Ich sehe auch ohne das, daß er ein braver Mensch ist. Außerdem ist er ein sehr ernsthafter Mensch und mir an Jahren weit voraus, und trotzdem kommt er
Weitere Kostenlose Bücher