Die Brüder Karamasow
selbst erzählen meine Herren. Vor fünf Tagen erklärte er bei einem Disput in einer hiesigen, vorwiegend aus Damen bestehenden Gesellschaft nachdrücklich, es gebe auf der ganzen Erde nichts, was die Menschen zwingen könne, ihresgleichen zu lieben. Ein Naturgesetz, das dem Menschen befehle, die Menschheit zu lieben, existiere überhaupt nicht. Wenn es auf Erden Liebe gebe oder gegeben habe, so sei das nicht die Folge eines Naturgesetzes, sondern lediglich des Umstandes, daß die Menschen an die Unsterblichkeit glauben. Iwan Fjodorowitsch fügte in Klammern hinzu, eben darin bestehe das ganze Naturgesetz, so daß die Menschheit, raubt man ihr den Glauben an die Unsterblichkeit, sofort die Liebe und jede lebendige Kraft zur Fortführung des irdischen Lebens verliere. Ja noch mehr, es gebe dann nichts Unsittliches mehr; alles sei dann erlaubt, sogar die Menschenfresserei. Aber auch das genügte ihm nicht; er schloß mit der Behauptung, für jede Privatperson, die weder an Gott noch an die Unsterblichkeit glaube, zum Beispiel für uns jetzt, verwandle sich das sittliche Naturgesetz sofort in das Gegenteil. Der Egoismus, gesteigert bis zum Verbrechen, müsse dem Menschen dann erlaubt und sogar als unvermeidlicher, vernünftigster und womöglich edelster Ausweg aus einer schwierigen Lage anerkannt werden. Aus einem solchen Paradoxon können Sie, meine Herren, auf das übrige schließen, was dieser exzentrische Freund von Paradoxen, unser lieber Iwan Fjodorowitsch, zu proklamieren beliebt.«
»Erlauben Sie«, rief plötzlich Dmitri Fjodorowitsch, »ich möchte doch feststellen, ob ich mich nicht verhört habe! ›Das Verbrechen muß erlaubt sein und für jeden Atheisten sogar als unvermeidlicher, vernünftigster Ausweg aus einer schwierigen Lage anerkannt werden.‹ War es nicht so?«
»Genauso«, sagte Vater Paissi.
»Das will ich mir merken.«
Nach diesen Worten verstummte Dmitri Fjodorowitsch ebenso plötzlich, wie er sich vorher ins Gespräch gemischt hatte. Alle blickten ihn neugierig an.
»Glauben Sie wirklich, daß dies die Folgen wären, wenn die Menschen den Glauben an die Unsterblichkeit ihrer Seelen verlieren würden?« fragte der Starez Iwan Fjodorowitsch.
»Ja, das behaupte ich. Es gibt keine Tugend, wenn es keine Unsterblichkeit gibt.«
»Gesegnet sind Sie, wenn Sie das glauben! Oder aber sehr unglücklich!«
»Warum unglücklich?« fragte Iwan Fjodorowitsch lächelnd.
»Weil Sie selbst wahrscheinlich ebensowenig an die Unsterblichkeit Ihrer Seele glauben wie an das, was Sie über die Kirche und die Kirchenfrage geschrieben haben.«
»Vielleicht haben Sie recht! Es war aber doch nicht nur Scherz von mir ...«, gestand Iwan Fjodorowitsch dann merkwürdigerweise, dabei überzog eine flüchtige Röte sein Gesicht.
»Es war nicht nur Scherz, das ist richtig. Dieser Gedanke ist in Ihrem Herzen noch nicht zur Klarheit gelangt und quält das Herz. Aber auch der Gequälte treibt zuweilen gern mit seiner Verzweiflung Kurzweil, gewissermaßen wiederum aus Verzweiflung. Vorläufig treiben auch Sie aus Verzweiflung Kurzweil, wenn Sie für Monatsschriften Aufsätze verfassen und in weltlichen Gesellschaften disputieren, während Sie selber nicht an Ihre Dialektik glauben, ja sogar mit wehem Herzen heimlich darüber lächeln ... In Ihrem Innern ist diese Frage noch ungelöst, und darin besteht Ihr großer Kummer; denn sie verlangt gebieterisch eine Lösung ...«
»Aber kann sie denn in meinem Innern gelöst werden? Gelöst in bejahendem Sinne?« fragte Iwan Fjodorowitsch weiter, wobei er den Starez fortwährend mit einem unerklärlichen Lächeln anblickte.
»Kann sie nicht in bejahendem Sinne gelöst werden, so wird sie auch niemals verneinend gelöst! Diese Eigenheit Ihres Herzens kennen Sie selbst, und darin besteht seine ganze Qual. Aber danken Sie dem Schöpfer, daß er Ihnen ein edleres Herz gab, das nicht nur fähig ist, solche Qual zu ertragen, sondern auch über das, was droben ist, nachzudenken und nach dem, was droben ist, zu trachten; denn unser Leben ist im Himmel. Gebe Gott, daß Ihr Herz die Lösung dieser Frage noch auf Erden finde, und segne Gott Ihre Wege!«
Der Starez hob die Hand und schickte sich an, Iwan Fjodorowitsch von seinem Platz aus zu bekreuzen. Der jedoch stand plötzlich auf, trat zu ihm, empfing den Segen, küßte ihm die Hand und kehrte schweigend auf seinen Platz zurück. Sein Gesichtsausdruck war fest und ernst. Dieses Auftreten, und das vorhergehende Gespräch mit dem
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