Die Brüder Löwenherz
mußte sich selbst ein Tengilmann ausrechnen können, daß es irgendwo ein Schlupfloch aus der Katlahöhle gab, durch das wir entkommen waren. Und dieses Schlupfloch zu entdecken, war ja nicht so schwer. Aber wahrscheinlich waren sie feige, diese Tengilmänner, sie wagten sich nur an Feinde heran, wenn sie im Trupp angreifen konnten, und keiner von ihnen traute sich, als erster in einen engen Schacht zu kriechen, wo ein unbekannter Feind auf sie lauern konnte. Sie waren ganz einfach zu feige, weshalb sonst ließen sie uns so leicht entkommen? Nie zuvor war ein Mensch aus der Katlahöhle geflohen. Wie wollten sie Tengil Orwars Flucht erklären, das fragte ich mich. Das sei ihre Sorge, meinte Jonathan. Wir hätten eigene Sorgen, und zwar mehr als genug. Erst nachdem wir durch den langen, engen Schacht gerutscht und gekrochen waren, wagten wir ein wenig zu verschnaufen. Es war auch nötig, Orwars wegen. Jonathan gab ihm Ziegenmilch, die sauer geworden, und Brot, das durchweicht war und trotzdem sagte Orwar: »Eine bessere Mahlzeit habe ich nie gegessen!«
Jonathan rieb ihm lange und gründlich die Beine, um wieder! Leben hineinzubringen, und Orwar erholte sich auch ein wenig. Gehen konnte er allerdings nicht, nur kriechen. Er erfuhr von Jonathan, auf welchen Wegen wir hergekommen waren, und als Jonathan ihn fragte, ob er trotzdem versuchen wolle, noch in dieser Nacht weiterzugehen, sagte Orwar:
»Ja, ja, ja! Wenn es sein muß, krieche ich auf den Knien heim ins Heckenrosental. Ich will hier nicht liegen und abwarten, bis Tengils Bluthunde uns heulend durch die Höhlengänge verfolgen.«
Schon jetzt spürte man, wer er war: kein armer Gefangener, sondern ein Aufrührer und Freiheitskämpfer war Orwar aus dem Heckenrosental. Als ich dort unten im Schein der Laterne seine Augen sah, begriff ich, warum Tengil ihn fürchtete. In ihm brannte ein Feuer, so schwach und elend er im Augenblick auch war, und diesem Feuer war es wohl zu danken, daß er die Höllennacht lebend überstand. Denn keine Nacht konnte schlimmer sein als diese. Lang wie die Ewigkeit war sie und voller Grauen. Aber wenn man völlig erschöpft ist, wird einem alles gleichgültig. Sogar Bluthunde, die einem auf den Fersen sind. Denn natürlich hörten wir die Hunde hinter uns heulen und kläffen. Doch ich hatte ganz einfach nicht die Kraft, mich zu fürchten. Im übrigen verstummten sie bald. Nicht einmal die Bluthunde wagten sich so weit wie wir in die Abgründe hinein, wo wir herumkrochen. Lange, lange mühten wir uns dort vorwärts, und als wir endlich zerschunden und blutbeschmiert und durchnäßt und halbtot vor Müdigkeit dort ans Tageslicht gelangten, wo Grim und Fjalar standen, war die Nacht bereits zu Ende und der Morgen da. Orwar streckte die Arme aus, als wollte er die Erde umarmen und den Himmel und alles, was er sah, aber seine Arme sanken hinab, und schon schlief er. Wir alle drei fielen wie betäubt in Schlaf und wußten von nichts mehr, bis es beinahe wieder Abend war. Da erst wachte ich auf. Fjalar hatte mich mit dem Maul geknufft. Er fand wohl, ich hätte lange genug geschlafen. Jonathan war auch wach.
»Wir müssen raus aus Karmanjaka, ehe es dunkel wird«, sagte er.
»Sonst finden wir den Weg nicht.«
Er weckte Orwar. Als dieser endlich zu sich gekommen war, sich aufgesetzt hatte und nun umherblickte, sich erinnerte und begriff, daß er nicht länger in der Katlahöhle war, traten ihm Tränen in die Augen.
»Frei«, murmelte er, »frei!«
Und er ergriff Jonathans Hände und hielt sie lange fest.
»Leben und Freiheit hast du mir wiedergeschenkt«, sagte er, und er dankte auch mir, obgleich ich gar nichts getan hatte, sondern meistens nur im Wege gewesen war. Sicherlich war Orwar so zumute wie mir damals, als ich von all meinem Leid erlöst worden und ins Kirschtal gekommen war, und ich wünschte ihm so sehr, daß auch er sein Tal erreichte, lebendig und frei. Doch noch waren wir nicht dort. Noch waren wir in den Bergen Karmanjakas, wo es jetzt wohl von Tengils Soldaten wimmelte, die nach Orwar suchten. Welch Glück, daß sie uns nicht während des Schlafes in unserer Schlucht aufgestöbert hatten! Dort saßen wir und aßen unser letztes Brot. Und hin und wieder sagte Orwar:
»Nein, daß ich lebe! Daß ich wirklich frei bin und lebe!«
Er war der einzige von allen Gefangenen in der Katlahöhle, der am Leben geblieben war. Alle anderen waren Katla zum Opfer gefallen.
»Aber auf Tengil ist Verlaß«, sagte Orwar. »Glaubt mir,
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