Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
bisweilen vorkommt. Er nannte es ›reaktionelles mediales Syndrom‹
und erklärte, es sei nichts, worüber man sich aufregen müsse.«
»Soll das heißen, dass Sie den jeweiligen Mord durchleben, bei dem Sie ermitteln?«
»Es soll heißen, dass ich mich, sobald ich an einem solchen Tatort eintreffe, an die Stelle der Opfer versetze, und zwar in die kurze Zeitspanne unmittelbar vor ihrem Tod. Ich schließe die Augen, verliere den Kontakt zu meiner Umgebung und erwache im Körper des Opfers.«
»Und nie in dem des Täters?«
»Nein. Ich habe es schon gesagt, die Täter erkenne ich am Geruch.«
»Sie erkennen sie am Geruch?«
»Ja, sobald ich in ihre Nähe komme. Wenn ich die Gerüche einer Menschenmenge in mich aufnehme, weiß ich sofort, ob sich darin ein Mörder befindet, und ich kann auch sagen, ob er bereits getötet hat oder unmittelbar vor der Tat steht.«
»Auf welche Weise?«
»Das weiß ich nicht. Es ist auch nicht wichtig. Ich kann es einfach.«
»Und an einem Tatort?«
»Da ist es anders. Dort spüre ich die Lust, die sie empfinden. Ich bekomme genau mit, was während der Tat in ihnen vorgeht, und stecke zugleich in der Haut ihres Opfers. Es ist das blanke Entsetzen, der absolute Schmerz, vermischt mit tiefer Lust. Sie sollten das mal ausprobieren. Mit diesem Wechselbad an Gefühlen kann sich keine Achterbahn auf der Welt messen.«
3
Seit sich Maria im Schwebezustand befindet, vermag sie den Puls der Stille wahrzunehmen. Das kaum hörbare Knarren der Parkettdielen, das Ticken von Dr. Coopers Armbanduhr, das Summen der Fliegen. Sie hat den Eindruck, sich in einer Blase zu befinden, in deren Inneres die Geräusche der Stadt Rio nicht einzudringen vermögen. Ein seelischer Schild schützt sie. Es ist ganz so, wie wenn sie eine Unmenge von Schlafmitteln und Gin zu sich nimmt, um schlafen zu können. Jetzt hört sie den Psychiater in seinen Unterlagen blättern. Er notiert sich etwas und legt dann den Füller wieder beiseite.
»Maria?«
»Ja?«
»Lassen Sie uns auf den Mörder in Ihren Visionen zurückkommen, wenn es Ihnen recht ist.«
»Welchen?«
»Den von Boston.«
»Was wollen Sie wissen?«
»Er sitzt in seinem Auto und sieht zu dem Mädchen hin, das an der Bordsteinkante entlanggeht, nicht wahr?«
»Ja.«
»Woher wollen Sie wissen, dass er ein Mörder ist?«
»Ich rieche es.«
»Seine Zigarre?«
»Nein. Es ist der Mördergeruch, ein sehr konzentrierter, gewalttätiger und aggressiver Geruch. Wenn ich das mit etwas vergleichen sollte, würde ich sagen, dass Kindermörder nach Ammoniak riechen. Sicher kennen Sie den grellen Lichtpfeil, der einem durchs Hirn fährt, wenn man Ammoniak riecht. Ungefähr so riechen Kindermörder.«
»Und die anderen, wonach riechen die?«
»Vergewaltiger nach verstopften Abflüssen, solche, die ihren Opfern die Haut abziehen, nach verwestem Fleisch. Mörder, die im religiösen Wahn töten, riechen nach Schmutz, Schweiß und Urin. Bei manchen Mördern finden sich all diese Gerüche gleichzeitig.«
Dr. Cooper zieht die Luft tief ein. Er kratzt sich erneut am Hals.
»Und wie geht Ihre Vision weiter?«
»Der Wagen fährt an dem Mädchen vorüber und bleibt ein Stück weiter stehen. Der Mann schaltet die Scheinwerfer aus und stellt den Motor ab.«
»Was für ein Wagen ist das?«
»Ein olivgrüner Oldsmobile.«
Man hört das Geräusch der Feder von Dr. Coopers Füller. Er schreibt.
»Das Mädchen kommt näher. Nur noch wenige Meter trennen es vom Geländer der Treppe vor ihrem Elternhaus. Es ist ein kleines, zwischen der Eisenbahn und der Interstate 93 eingeklemmtes Backsteinhaus in East Somerville. Kennen Sie den Ort?«
»Nein.«
»Eine Ansammlung von Wohnanlagen und einige trübselige kleine Häuser mit von Brombeerranken überwucherten Gärtchen. Auf der einen Seite der Lärm der Autobahn und der Geruch nach Benzin, und auf der anderen das Rumpeln endlos langer Güterzüge, die Waren nach Westen transportieren. Unmittelbar vor dem Haus liegt eine Weiche, und jedes einzelne Rad der darüber hinwegfahrenden Waggons verursacht einen Höllenlärm. Das sind die Ungeheuer der Tiefe: Geräusche und Gerüche.«
»Sieht das Mädchen den Mörder immer noch?«
»Ja, durch ihre zusammengekniffenen Lider.«
»Was tut er?«
»Er sitzt am Lenkrad, raucht und sieht im Rückspiegel
zu, wie sie näher kommt. Er trägt einen Hut. Er hat den Jackettkragen hochgeschlagen. Um den Hals hat er einen Schal gewickelt. Von Zeit zu Zeit streckt er die Hand aus dem
Weitere Kostenlose Bücher