Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
Fenster, die in einem Lederhandschuh steckt, und klopft die Zigarrenasche ab. Sie fällt in kleinen Kreisen auf den Gehsteig. Man könnte sie für abgeschnittene Stücke von Fingernägeln halten.«
»Und das Mädchen?«
»Sie hat die Treppe erreicht. Sie ist in Sicherheit. Der Abgrund liegt hinter ihr.«
»Er hat sich also geschlossen?«
»Das wird er nie tun. In Sicherheit ist sie ausschließlich im Elternhaus. Draußen gibt es nichts als gähnende Abgründe, giftige Gase und Trostlosigkeit. Die Gehsteige von Somerville führen als schmale Stege über diese Abgründe hinweg. Was dem Auge als Gehsteige, Straßen und Sackgassen erscheint, sind in Wirklichkeit schmale Stege, und alles andere, die Häuser, die unbebauten Grundstücke, die Schnellstraße und die Eisenbahn, sind die Abgründe.«
»Beruhigen Sie sich, Maria. Versuchen Sie, sich zu entspannen.«
Ihre Kehle ist ausgedörrt. Sie spürt die Traurigkeit des kleinen Mädchens, das mit schleppendem Schritt Stufe für Stufe die Treppe hochsteigt. Noch weiß sie nicht, dass sie sterben wird. Sie denkt an den Vater, der am Vorabend von einer seiner endlosen Fahrten quer durch die Vereinigten Staaten zurückgekehrt ist. Er ist Fernfahrer und Trinker. Häufig verprügelt er die Mutter. Man kann es durch die papierdünnen Wände hören. Schläge, die auf Haut klatschen, Beschimpfungen, Flüche, Schluchzen. Aber gestern Abend haben sie miteinander geschlafen. Diese Seufzer klangen anders. Es war ein anderer Schmerz. Ein gutes Zeichen, das ist dem Mädchen klar. Vielleicht wird der Vater die Mutter an ihrem Geburtstag nicht schlagen.
»Maria, sind Sie noch da?«
»Ja.«
»Was sehen Sie?«
»Das Mädchen steht jetzt vor der Tür. Sie öffnet die Augen. Ein Eisengitter umgibt eine nackte Glühlampe, die ihre Mutter gerade eingeschaltet hat. Zahlreiche Mücken sitzen auf dem Glas. Während ihre Flügel verbrennen, steigt eine Rauchspirale auf. Es knistert in der kalten Luft. Es wird dunkel. Der Finger des kleinen Mädchens nähert sich dem Klingelknopf. Sie drückt darauf.«
»Hat sie keinen Schlüssel?«
»Sie verliert die Schlüssel immer wieder. Sie verschwinden in den Abgründen.«
Das Atmen fällt Maria immer schwerer.
»Jetzt hört sie schlurfende Schritte auf dem Linoleum der Diele. Das Schnappschloss fährt zurück, die Tür öffnet sich. Es ist dunkel. Es riecht nach Lebkuchen und Puffmais. Das Mädchen tritt ein, nimmt die Mütze ab und zieht die Handschuhe aus. Sie spürt Mamas kalte Lippen auf ihrer Stirn. Ihr Atem riecht nach billigem Bourbon und gerösteten Erdnüssen. Ihre Mutter hat wieder Valium genommen. Man hört das an ihrer Stimme, als sie die Kleine fragt, wo sie war.«
»Was gibt sie zur Antwort?«
»Es ist nicht als wirkliche Frage gemeint. In diesem Zustand ist Mama das völlig egal. Einmal hat das Mädchen versucht, ihr die Sache mit den Abgründen zu erklären. Nur ein einziges Mal. Sie hat gleich wieder aufgehört, als sie die vor Überraschung gespitzten Lippen und die großen Augen ihrer Mutter gesehen hat. Sie waren ebenso leer und kalt wie die Abgründe.«
»Und dann?«
»Das Mädchen geht nach oben. Die hölzernen Treppenstufen knarren unter ihren Füßen. Die Tür ihres Zimmers
ist angelehnt. Drinnen riecht es nach Staub und Möbeln aus Holzimitat. Sie legt sich aufs Bett. Für ihre Geburtstagsfeier ist es noch zu früh. Sie muss noch eine Stunde warten, bis Onkel Walt und Tante Bessie da sind.«
»Ganz ruhig, Maria. Hier sind Sie in Sicherheit.«
»Vorläufig. Nachdem Onkel Walt gekommen ist, alle miteinander gegessen haben, das Mädchen seine Geschenke ausgepackt, sich die Zähne geputzt hat und zu Bett gegangen ist, wird sie nicht schlafen. Sie wird die Stille hören, das Ticken der Uhr im Erdgeschoss. Das Knarren der Tür von Onkel Walts Zimmer. Er wird die Tür zu ihrem Zimmer öffnen, wobei sein weißlicher Wanst den Rahmen ausfüllt. Dann wird er eintreten und sie hinter sich schließen. Ich weiß, dass das Mädchen Angst bekommt. Außerdem wird ihr schlecht. Sie möchte am liebsten sterben. Wenn er gegangen ist, wird sie sich übergeben. Sie geht sich waschen und übergibt sich. Aber für den Augenblick hat sie nichts zu befürchten. Sie ist müde. Sie richtet den Blick auf das kalte Licht der Straßenlaternen, das zwischen den Lamellen der Jalousien hereindringt. Sie schließt die Augen und schläft ein.«
4
Seit einigen Wochen wird Maria nachts erneut von den Bildern des kleinen Mädchens heimgesucht. Zwei
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