SECHS
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„Verdammt“, Frank blickte gehetzt auf seine Armbanduhr, „ich bin spät dran.“ Es war fast sechs Uhr. Um neun sollte er einen Kurs halten. Er wollte vor Kursbeginn noch einmal durchgehen, was es die nächsten Tage zu vermitteln galt und, wichtiger noch, das Material prüfen, das er für die Schulung benötigte. Nichts war unangenehmer, als vor den Teilnehmern zu stehen und Gerätschaften vorzufinden, die nicht funktionierten.
Währenddessen er auf der Flur-Treppe saß und sich eilig die Schuhe band, brühte Melanie Kaffee auf.
„Einen schaffst du noch?“, kam es aus der Küche. Der zweite Schuh war an der Reihe.
„Aber viel Milch ...“, rief Frank zurück.
„He, ich mache das nun schon seit fast siebzehn Jahren.“
Ganz gute Jahre, dachte er, als er den Knoten festzog. Vor allem vor dem Hintergrund einer Zeit, in der es Usus schien, den anderen als seinen „Lebensabschnittspartner“ vorzustellen.
Frank gesellte sich jetzt zu seiner Frau und kaute eilig auf dem Brötchen herum, das sie ihm hingeschoben hatte.
„Und? Welchen Kurs gibst du?“, fragte Melanie.
„SIP.“ Es klang wie „Schipp“.
Melanie schlang die Arme um seinen Hals, legte den Kopf in den Nacken und lächelte zu ihm hoch.
„Damit kann ich so viel anfangen, wie Pamela Anderson mit einem Buch.“
Frank umfasste ihre Taille und zog sie zu sich heran. Er grinste.
„Okay, Pam, ich erkläre es dir.“
Melanie blickte ihn scharf an.
„Das ist ein Signalisierungsprotokoll. Damit kann man zum Beispiel telefonieren.“
Sie legte die Stirn in Falten.
„Klingt langweilig.“
War es das? Vielleicht. Manchmal. Ohne Zweifel würde er es vorziehen, über Belletristik zu referieren - vorzugsweise über seine eigenen Werke. Als technischer Trainer, der etwas über Protokolle schrieb und erzählte, hatte er weniger künstlerische Freiheiten. Aber er konnte die Miete bezahlen. Als Germanist, der er eigentlich war, würde er sich nur von einem erfolglosen Roman zum anderen hangeln. Da war er sich sicher. Vielleicht, und damit rettete er sich über die Zeit, könnte er eines Tages wenigstens einmal das Wagnis eingehen, einen Roman zu schreiben. Nebenbei. Und bei „Nebenbei“ und „Einmal“ würde es auch bleiben. Da machte er sich keine Illusionen.
„Die Leute bezahlen Geld dafür“, widersprach Frank mit gespielter Empörung.
„Aber ganz bestimmt nur, weil du es ihnen erzählst.“
„Klar, vor allem die Damen.“ Frank zwinkerte ihr zu.
Zur Antwort boxte sie ihm auf die Brust – ebenfalls mit gespielter Empörung, denn Sorgen machte sie sich nicht. Melanie war sich seiner sicher. Auch dann, wenn er, so wie jetzt, dieses Lächeln aufsetzte. Und er lächelte viel. Auch im Kurs. Das wusste sie.
Kinderfüße trippelten die Treppe hinunter und kurz darauf lugten müde Augen in die Küche hinein. Die von Sofie zuerst.
„Guten Morgen, Rind“, begrüßte Frank sie und zwinkerte ihr über den Rand des Bechers zu. Die Achtjährige verzog den Mund.
„Ich bin kein Rind!“, protestierte sie.
„Sag' ich schon immer, dass du 'ne Kuh bist!“, zischte die Größere und gab ihr einen Stoß in den Rücken, so dass Sofie in die Küche taumelte. Als die sich wieder gefangen hatte, wirbelte sie herum und stemmte die Hände in die Hüften.
„Ach, ja? Und warum wachsen dir dann die Euter?“
Das hatte gesessen. Die einsetzende Pubertät hinterließ sichtbare Spuren unter Claires Nachthemd - aber zu wenige. Weil Claire die schlanke Statur ihrer Mutter hatte und diese – wie Claire sie nannte - „Mini-Dinger“ umso auffälliger waren, fand die Zwölfjährige die knospenden Brüste einfach nur peinlich. Erst recht, wenn das so offen vor ihrem Vater angesprochen wurde.
Nach der „Euter-Bemerkung“ wusste Sofie sehr genau, was ihr blühte. Und sie reagierte sofort. Mit einem schnellen Sprung rettete sie sich hinter ihren Vater und entging so dem Schlag der sie um einen Kopf überragenden Schwester mit knapper Not.
Melanie ging dazwischen.
„He! Genug ihr zwei!“
„Aber sie hat Kuh zu mir gesagt!“, brüllte Sofie. Ihr pausbackiges Gesicht färbte sich rot.
„Ihr schenkt euch beide nichts“, sagte Melanie und blickte missbilligend zu Claire hinüber. Die allerdings scherte sich nicht darum, fixierte ihre Schwester mit zusammengekniffenen Augen. Und das war nichts anderes, als eine Kriegserklärung.
„Ich würde vorschlagen, ihr werft euch jetzt ein bisschen Wasser ins Gesicht“, sagte Melanie.
Sofie
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