Die Buecher und das Paradies
Theodolinda geehelicht hat? Wie groß ist der Teil dieser
Welt, in der Hamlet und Ophelia leben und nicht der unglückliche Theophrast?
Manche Figuren sind in gewisser Weise kollektiv wahr geworden, weil die Lesergemeinde im Lauf der Jahre oder Jahrhunderte Leidenschaften in sie investiert hat. Wir investieren individuelle Leidenschaften in vielerlei Phantasien, die wir im Wachen oder im Halbschlaf entwickeln. Wir können richtig gerührt sein, wenn wir an den Tod einer geliebten Figur denken, oder uns physisch erregen bei der Vorstellung, wir hätten mit ihr eine erotische Beziehung, und in gleicher Weise, durch Identifikations- oder Projektionsprozesse, können wir erschüttert sein über das Los der Emma Bovary oder uns, wie es ganzen Generationen ergangen ist, durch die Leiden des jungen Werther oder des Jacopo Ortis zum Selbstmord treiben lassen. Aber wenn uns jemand fragen würde, ob die Person, deren Tod wir uns vorgestellt haben, wirklich gestorben ist, würden wir mit Nein antworten, denn es war ja nur eine private Phantasie. Fragt man uns hingegen, ob Werther sich wirklich umgebracht hat, so antworten wir mit Ja, und die Phantasie, von der wir sprechen, ist keine private mehr, sondern eine kulturelle Realität, über die sich die ganze Lesergemeinde einig ist. Wir würden jemanden für verrückt erklären, der sich umbringt, nur weil er sich vorgestellt hat - wohl wissend, daß es sich um ein Produkt seiner Phantasie handelte -, daß seine Geliebte gestorben sei, aber wir bringen Verständnis für jene auf, die sich aus Kummer über Werthers Selbstmord umgebracht haben, obwohl sie wußten, daß es sich um eine fiktive Person handelte.
Wir tun also gut daran, eine Region im Universum zu finden, wo diese Personen leben und unser Verhalten bestimmen, damit wir sie uns zu Vorbildern wählen können, für unser Leben und das der anderen, und damit wir auf Anhieb verstehen, was es heißt, wenn wir von jemandem sagen, er habe einen Ödipuskomplex, ein donquichotteskes Verhalten, einen gargantuesken Appetit, er leide an Zweifeln wie Hamlet oder an Eifersucht wie Othello, er sei ein unheilbarer Don Juan oder eine notorische Circe. Und das gilt in der Literatur nicht nur für Personen, sondern auch für Objekte und Situationen. Warum sonst würden die Frauen im Zimmer, die kommen und gehen und über Michelangelo reden, die tausend Stäbe, hinter denen es keine Welt gibt, die kleine dunkelhellila Aster, die Wolke ungeheuer oben, die Mühen der Ebene, die schwarze Milch der Frühe, das heilignüchterne Wasser, die Ruhe über allen Wipfeln -und jeder mag hier seine eigenen Lieblingszitate ein-setzen 5 -, warum sonst würden all diese Bilder und poetischen Formeln zu obsessiven Metaphern, die bereitstehen, um uns bei jeder Gelegenheit zu wiederholen, wer wir sind, was wir wollen, wohin wir gehen, oder was wir nicht sind und was wir nicht wollen?
Diese Entitäten der Literatur sind unter uns. Sie waren nicht immer schon da, wie (vielleicht) die Quadratwurzeln und das Theorem des Pythagoras, aber jetzt, nachdem sie einmal von der Literatur geschaffen worden sind und wir sie durch Investition unserer Leidenschaften genährt haben, sind sie da, und wir müssen unsere Rechnung mit ihnen machen. Sagen wir ruhig, um ontologische und metaphysische Diskussionen zu vermeiden, sie existieren als kulturelle Haltungen oder soziale Anlagen. Aber auch das allgemeine Inzesttabu ist eine kulturelle Haltung, eine Idee, eine Anlage, und war doch stark genug, die Geschicke der menschlichen Gesellschaften zu bestimmen.
Nun sagen jedoch heute einige, auch die literarischen Figuren drohten sich zu verflüchtigen, unbeständig zu werden und jene Festigkeit zu verlieren, die uns zwang, ihre Geschicke nicht zu verleugnen. Wir sind in die Ära des Hypertexts eingetreten, und der elektronische Hypertext erlaubt uns nicht nur, durch riesige Textmassen zu navigieren (durch ganze Enzyklopädien oder das Gesamtwerk von Shakespeare), ohne zwangsläufig jede darin enthaltene Information einzeln »aufzufädeln«, sondern sie zu durchfahren, wie eine Stricknadel durch ein Wollknäuel fährt. Dank der Erfindung des Hypertexts hat sich auch die Praxis eines frei erfindenden Schreibens entwickelt. Im Internet gibt es Programme, mit denen man kollektiv Geschichten schreiben kann, indem man sich am Aus- und Weiterbau von Erzählungen beteiligt, die potentiell unendlich weitergehen. Und wenn so etwas mit einem Text möglich ist, den man zusammen mit einer
Weitere Kostenlose Bücher