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Die Buecher und das Paradies

Titel: Die Buecher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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idealistisch zu glauben, daß den riesigen Massen, denen es an Brot und Medikamenten gebricht, ausgerechnet die Literatur Erleichterung bringen könnte. Aber eine Bemerkung möchte ich hier gerne machen: Jene Unseligen, die sich ziellos zusammenrotten und töten, indem sie Steine von Brücken werfen oder kleine Kinder anzünden, werden nicht, was sie sind, weil sie durch das Computer-Newspeak verdorben worden waren (sie haben gar keinen Zugang zu Computern), sondern weil sie ausgesperrt sind aus der Welt der Bücher und den Orten, an welchen sie durch Erziehung und Diskussion mit jener Wertewelt in Kontakt kommen könnten, die aus den Büchern spricht und auf die Bücher zurückverweist.
    Die Lektüre literarischer Werke zwingt uns, bei aller Freiheit des Interpretierens Treue und Respekt zu üben. Es gibt eine gefährliche Kritikermeinung, die typisch für unsere Tage ist, nach der man mit literarischen Werken machen kann, was man will, indem man alles aus ihnen herausliest, was unsere tiefsten Triebe uns nahelegen. Das ist falsch. Literarische Werke laden uns ein, sie frei zu interpretieren, insofern sie uns einen Diskurs mit mehr als nur einer Lesart vorsetzen und uns mit den Mehrdeutigkeiten sowohl der Sprache als auch des Lebens konfrontieren. Doch um in diesem Spiel weiterzukommen, in dem jede Generation die literarischen Werke anders liest, muß man von einem tiefen Respekt vor dem erfüllt sein, was ich anderswo die Intention des Textes genannt habe.
    Einerseits scheint uns die Welt ein »geschlossenes« Buch zu sein, das nur eine Lesart zuläßt, denn wenn es ein Gesetz gibt, das die Gravitation der Planeten regiert, dann ist es entweder das richtige oder das falsche Gesetz, und verglichen damit erscheint uns das Universum eines Buches als eine offene Welt. Aber versuchen wir einmal, uns einem narrativen Werk mit gesundem Menschenverstand zu nähern, und vergleichen wir die Aussagen, die wir darüber machen können, mit denen, die wir über die Welt machen können. Über die reale Welt sagen wir, daß die Gesetze der universalen Gravitation diejenigen sind, die Isaac Newton formuliert hat, oder daß es wahr ist, daß Napoleon am 5. Mai 1821 auf Sankt Helena gestorben ist. Und doch werden wir, wenn wir einigermaßen aufgeschlossen sind, immer bereit sein, unsere Überzeugungen zu revidieren, sobald die Wissenschaft eine neue Formulierung der großen Gesetze des Kosmos vorlegt oder ein Historiker neue Dokumente findet, die beweisen, daß Napoleon bei einem Fluchtversuch auf einem bonapartistischen Schiff gestorben ist. In der Welt der Bücher dagegen werden Aussagen wie »Sherlock Holmes war Junggeselle« oder »Rotkäppchen wird vom Wolf verschlungen und dann vom Jäger gerettet« oder »Anna Karenina wirft sich vor einen Zug« in alle Ewigkeit immer wahr bleiben und von niemandem widerlegt werden können. Es gibt Leute, die verneinen, daß Jesus Gottes
    Sohn war, und solche, die sogar seine historische Existenz bezweifeln, während andere beteuern, daß er der Weg, die Wahrheit und das Leben sei und wieder andere glauben, daß der Messias erst noch kommen werde, und was immer wir darüber denken, wir behandeln sie alle mit Respekt. Aber niemand wird jemanden mit Respekt behandeln, der behauptet, Hamlet habe Ophelia geheiratet oder Superman sei nicht Clark Kent.
    Literarische Texte sagen uns nicht bloß ausdrücklich, was wir nie mehr in Zweifel ziehen können, sondern sie bedeuten uns auch im Unterschied zur realen Welt mit souveräner Autorität, was in ihnen als relevant zu gelten hat und was wir nicht zum Ausgangspunkt freier Interpretationen nehmen können.
    Am Ende des 65. Kapitels von Rot und Schwarz erfahren wir, daß Julien Sorel in die Kirche geht und auf Madame de Rénal schießt. Nachdem Stendhal betont hat, daß Juliens Arm stark zitterte, berichtet er, daß sein Held einen ersten Schuß abgibt, der das Opfer verfehlt, und danach einen zweiten, der die Dame zu Boden streckt. Stellen wir uns nun vor, wir wollten behaupten, der zitternde Arm und der Umstand, daß der erste Schuß danebenging, bewiesen, daß Julien nicht in der festen Absicht zu töten, sondern getrieben von einer plötzlichen rasenden Leidenschaft in die Kirche gestürmt sei. Dieser Interpretation ließe sich eine andere entgegensetzen, nach der Julien zwar von Anfang an habe töten wollen, aber ein Feigling war. Der Text erlaubt beide Interpretationen.
    Nun will es der Zufall, daß sich jemand gefragt hat, wo eigentlich die erste

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