Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)
Vorwort – Meer des Vergessens
Die folgenden Worte sind nicht dafür gedacht als Buch zu erscheinen. Mehr noch: Sie sind genaugenommen noch nicht einmal dafür gedacht niedergeschrieben zu werden. Aber die Zeiten, in denen die Geschichten einer Welt von Generation zu Generation, von Volk zu Volk und von Mund zu Ohr weitergegeben wurden, sind lang vorbei. Damit das Wissen, das sich aus Sagen verdichtete, nicht erneut zur Sage zerrinnen konnte, musste es zu Papier gebracht werden. Es musste eine neue Form finden und sich der ungewohnten Führung von Buchstaben, Sätzen und Kapiteln anvertrauen.
Niemand weiß, welche Worte Icher, der Horndämon einst gewählt hat, um der Welt von seinem Herrn zu berichten, niemand kennt die Zahl derer, welche diese Worte in Versen, gesungen oder gesprochen, weitergegeben haben und niemand kann sagen, wer sie zuerst niederschrieb, und wie viel von dieser ersten Niederschrift schließlich auf uns gekommen ist.
Ich stelle mir vor, dass der erste Schreiber, wer immer er auch gewesen sein mag, die Verantwortung gespürt haben muss, die das Weitergeben einer Geschichte wie dieser mit sich bringt.
Ich stelle mir vor, wie er beinahe bei dem Versuch verzweifelte eine Form für diesen überbordenden Stoff zu finden.
Ich stelle mir vor, dass er das schwankende Boot seiner Erfahrung und Kunstfertigkeit bestieg und sich vom Strom der Inspiration treiben ließ.
Andere folgten seinem Beispiel und bereisten das Meer des Unaussprechlichen, um mit den kleinen Eilanden die sie entdeckten, seine unermessliche Größe abzustecken.
Einer dieser Entdecker hat der Geschichte von Icher und seinem Herrn die Form gegeben, in der sie uns heute vorliegt. Wir können davon ausgehen, dass er die anderen Kapitäne und Navigatoren gut kannte, denn er spielt in seinem Text immer wieder auf sie an. Aber er folgte doch seinem eigenen Kompass.
Ob er sein Ziel erreicht hat und ob er mehr wollte als nur eine Geschichte erzählen, kann niemand sagen außer er selbst. Aber er hat in jedem Fall viel geleistet.
Aber seine Leistung ist unbestritten und ich versuche ihm gerecht zu werden, indem ich seine Worte, so gut ich es mit meinen bescheidenen Mitteln vermag, wiedergebe und in unsere Sprache übertrage.
Möge mein eigenes Leuchtfeuer auf der Insel, die er entdeckt hat, andere dazu ermutigen in See zu stechen und diese oder andere Geschichten dem Vergessen zu entreißen.
Charon Sebastian
Kapitel 1 – Blut auf der Haut
Erich versuchte seine kraftlosen Augenlider zu öffnen aber etwas stimmte nicht mit ihnen. Sie fühlten sich so fürchterlich schwer an und er war so schrecklich müde. Aber die Sonne brannte auf seiner Stirn und er fürchtete, er würde Ärger bekommen, wenn er verschlief und den anderen nicht bei der Feldarbeit half. Roch er nicht schon die feuchte Erde und den Schweiß, der auf den Gesichtern der Männer und Frauen aus seinem Dorf stand? Er wollte sich noch einmal kurz auf die andere Seite des Bettes drehen und die Decke über seinen Kopf ziehen, aber er konnte sie nicht finden. Auch sein Kissen war fort. Da waren nur Staub und Steine. Stöhnend öffnete er einen Spalt breit die Lider. Wo war er?
Ein Eimer kam in sein Blickfeld, zeigte sich langsam scharf, wie unter einer aufgewühlten Wasseroberfläche, die langsam zur Ruhe kam. Er lag umgekippt da, in seinem Inneren ein letzter Rest der Flüssigkeit, die er über den Platz vor dem Brunnen vergossen hatte.
Sein Kopf tat weh. Sein ganzer Körper fühlte sich an, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Er wusste, wie es war sich den Kopf zu stoßen und ohnmächtig zu werden. War er also gestürzt oder hatte sich irgendwo gestoßen? Es wäre nicht das erste Mal, denn er war überaus tollpatschig, anders als die anderen Kinder, die deswegen oft ihren Spott mit ihm trieben. Aber er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wie das passiert sein könnte. Und wenn er gestürzt war, wo waren dann die anderen Dorfbewohner? Sie hätten sich doch um ihn gekümmert!
Doch nichts regte sich um ihn herum und mit einem Mal fiel ihm auf, dass es gespenstisch still war. Mamre der Schmied hämmerte nicht und auch von den sonst so geschwätzigen Wäscherinnen beim Brunnen war kein Ton zu hören. Ein gewaltiger Schreck fuhr Erich in die Glieder und mit einem Mal war er hellwach. Ein Überfall!
Waren es vielleicht Trolle gewesen, die aus dem Wald … nein, dort gab es höchstens Wölfe, aber Trolle waren Fabelwesen. Und sie hätten
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