Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)
Freunde und Bekannten, um nach Hause zu gelangen. Er machte sich keine Hoffnung, dass seine Eltern diesen Wahnsinn überlebt haben könnten, aber er wollte Gewissheit – er brauchte Gewissheit.
Die Tür ihres Hauses war aus den Angeln gerissen und lag zerbrochen in dem Kräuterbeet, das seine Mutter zur Straße hin angelegt hatte. Im Rosmarin lag sein Bruder wie ein zur Ruhe gebetteter Krieger. Auf den ersten Blick schien er unversehrt, doch der Kopf wies in einem seltsamen Winkel zum Nachbarhaus hinüber und Erich konnte nicht verhindern, dass erneut Tränen in ihm aufstiegen. Weinend stürzte er nach drinnen und verharrte zitternd, bis sich seine Augen an die Dunkelheit in der Stube gewöhnt hatten. Hier hatte offensichtlich ein heftiger Kampf stattgefunden. Der Tisch war umgeworfen, Töpfe und Teller lagen in Scherben auf dem Boden, zwischen ihnen die Reste des Frühstücks.
Unter dem umgestürzten Geschirrschrank ragten die Füße seines Vaters hervor. Sie waren starr und tot wie alles andere um ihn herum. Seine Mutter fand er am Fuß der Stiege nach oben. Sie war offensichtlich die Stufen hinuntergefallen und hatte sich den Hals gebrochen. Wenigstens waren sie schnell gestorben. Keinem von ihnen war wie Oswy mit zerquetschter Kehle die Luft ausgegangen. Aber das war kein Trost für ihn, denn auch sie waren tot.
Als Erich sich auf den Hocker setzte, der düster wie ein Richtblock in der schattigen Küche stand, fühlte er sich ebenso tot wie die anderen. Er war nicht mehr in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen. Er war nicht mehr in der Lage darüber nachzudenken, was er als nächstes tun sollte. Erst als ein schmaler Streifen Sonnenlicht durch einen Spalt im verschlossenen Fensterladen herein drang, hob er den Kopf, um das Licht dabei zu beobachten, wie es sich gemächlich vom Salztopf zum Butterfass vortastete. Normalerweise bedeutete das, dass es Zeit war, seinem Vater etwas zu Essen hinaus aufs Feld zu bringen und obwohl er wusste, dass sein Vater keine fünf Schritte von ihm entfernt unter einem Schrank begraben lag, stand Erich auf, steckte einen Kanten Brot, etwas geräuchertes Fleisch und einen Winterapfel in die Taschen seines Hemds und ging nach draußen.
Als er in die Sonne trat, konnte ihn ihre Wärme nicht erreichen. Er hatte etwas gesehen, das die wenigsten Menschen je zu sehen bekamen, schon gar nicht in seinem Alter, und war sich sicher, dass das Leben keinen Schrecken mehr für ihn bereit hielt. Er verschloss die Angst eines Kindes, das plötzlich seine Eltern verloren hatte, in einer abgeschiedenen Ecke seines Herzens und baute die Trümmer seiner Seele davor auf. Aber Angst ist wie das Meer. Sie lässt sich an manchen Stellen eindämmen, aber entkommen kann man ihr nicht. So kehrte sie als die Angst vor dem Ungewissen, das nun vor ihm lag, zu ihm zurück. Er fühlte nichts als Furcht davor, was nun kommen würde und gleichzeitig fühlte er viel zu viel um es in geregelte Bahnen lenken zu können. Da war die Angst, aber auch noch immer die an ihm nagende Frage, was hier geschehen war. Wer oder was um alles in der Welt hatte den Bewohnern seines Dorfes nur so etwas antun können? In Erich breitete sich eine große Müdigkeit aus, die ihm zuwisperte, dass er sich nur zu den Toten legen müsse, um alle Fragen ein für alle Mal zu beantworten. In der Küche lag ein scharfes Messer und mit zwei kleinen Schnitten, die nicht besonders schmerzen würden ...
Aber da war auch eine Stärke, die seinen Geist dazu antrieb weiterzumachen und sich zu überlegen, was er nun tun konnte. Eine Stärke, die sich nur der Unzulänglichkeit des Körpers beugte. Seine Beine gaben nach und er sank auf den Holzstapel, der unter dem Fenster aufgeschichtet war. Er war unfähig sich zu bewegen oder den Blick von seinem Bruder abzuwenden, der ihn selbst im Tod anzulächeln schien, wie er es immer getan hatte. Eigentlich war er gar nicht sein Bruder, kam ihm plötzlich in den Sinn. Erich erinnerte sich, daran, wie ihm seine Eltern erklärt hatten, dass er wie Leif, der Sohn des Häuslerbauern adoptiert worden war. Und wie Leif hatte er wenig Ähnlichkeit mit seinen Zieheltern. Erich hatte sich seitdem noch oft Gedanken darüber gemacht. Schon zuvor hatte er sich ab und zu gewundert, dass er größer war als die anderen Kinder und da war auch die Sache mit seiner Tollpatschigkeit, weil er seine schlanken Gliedmaßen einfach nicht richtig unter Kontrolle halten konnte. Aber hatte nicht jeder irgend etwas, das ihn von
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