Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
noch irgendwo in den Roten Bergen haust.«
Sorrens Haut prickelte. Sie erinnerte sich, daß ihre Mutter ihr Geschichten über das Tal der Hexer namens Vanima erzählt hatte, wo niemand jemals krank wurde, oder fror, oder Hunger hatte, und wo es immer Sommer war. »Gibt es einen solchen Ort wirklich?« hatte sie Isak gefragt.
Er hatte bitter gelächelt. »Die Legenden behaupten es.«
»Aber du glaubst nicht daran.«
Er hatte den Kopf geschüttelt. »Nein.«
Sorren kannte die Erzählungen über den Roten Clan. Sie hatte sie an den Lagerfeuern der Weinleser gehört. Früher einmal waren die Waffenhöfe der Städte öffentliche Orte gewesen, wo die Kinder hingingen, um die Kunst des Kämpfens zu erlernen. Und die kräftigsten, sichersten und anmutigsten unter diesen Kindern wurden ausgewählt und durften den Tanz lernen. Diejenigen, die sowohl kämpfen wie tanzen konnten, nannte man chearis, und wiederum die Besten unter ihnen verbanden sich in einer Truppe, einem Bund, der durch wechselseitige Liebe, Respekt und Können gefestigt war. Und die einzelnen Trupps nannte man einen chearas. Und sie zogen von Weiler zu Dorf zu Stadt, von der Steppe bis ans Meer, und tanzten und lehrten die Waffenkünste, und verführten die Herzen aller, die ihnen zuschauten im weiten Land von Arun, zur Harmonie.
Aber als immer mehr Menschen nach Kendra-im-Delta drängten, wurde der Rat der Häuser unruhig und besorgt; er belegte das Tragen von scharfkantigen Waffen mit dem Bann, danach sogar den Unterricht im Gebrauch scharfer Waffen innerhalb der Bannmeile der Stadt. Der Rat der Häuser in Shanan folgte diesem Beispiel. Und schließlich erließ sogar der Rat in Tezera einen Bann. Die Chearis waren empört über diesen Abfall von den Werten der Tradition und brachten ihre Klage vor den Tanjo. Der Rat der Hexer beriet sich, und schließlich verkündete L'hel, ihr Oberhaupt, den Spruch. Alle Dinge, hatte sie erläutert, unterlägen dem Wandel. Das chea manifestiere sich friedlich. Der Bann der scharfen Waffen werde die Städte befrieden und zu friedlichen Orten machen. Darum lasse man die Soldaten kämpfen, und man lasse die Chearis tanzen. Für Stadtleute gebe es nicht länger die Notwendigkeit, außer für jene, die zu den Wachen gerufen würden, das Waffenhandwerk oder den Kampf zu erlernen.
Einige Chearis, wie etwa Meredith von Shanan, hatten die Kampfmesser abgelegt, den Waffenhof verlassen und sich dem Lehren des Tanzes geweiht, so wie die Hexer es befahlen. Andere hatten sich den Stadtwachen angeschlossen und dort die Kunst der Handhabung von Speer und Stockfechten und den Kampf mit bloßen Händen gelehrt. Solche Fertigkeiten erlaubten die Stadtregierungen den Wachen, aber keinem anderen Bürger.
Doch die meisten Chearis hatten sich aus den Städten davongemacht, ungläubig, voller Zorn und nicht bereit, sich zu wandeln.
»Wohin sind sie gegangen?« hatte Sorren zuerst Isak, dann auch Paxe gefragt. Die alten Geschichten beunruhigten und verzauberten sie gleichermaßen.
Isak hatte gesagt: »Sie sind in den Westen gezogen und nach Norden, ich nehme an, auf der Suche nach Vanima, wo die Ursprünge des Roten Clans liegen.«
Paxe hatte gesagt: »Sie gingen nach Westen.«
»Also gibt es noch einen Roten Clan?«
Und Paxe hatte gesagt: »Frage Isak Med. Der dürfte die shariza tragen, wenn er wollte.«
Und Isak hatte gesagt: »Frage die Meisterin im Hof! Frag Paxe!«
Aber man konnte Paxe nicht zum Reden bringen, wenn sie nicht wollte. Also fragte Sorren nicht ein zweitesmal. Statt dessen bog sie sich selbst die Antwort zurecht: Nein! Der Rote Clan existierte nicht mehr. Und der Gedanke machte sie traurig. Allerdings traf es zu, die Stadt war ein friedlicher Platz. Die Wachtrupps hielten die Ordnung aufrecht. Vielleicht waren noch ein paar alte Chearis am Leben, irgendwo in Arun verstreut. Aber es mußte bezweifelt werden, daß sie jemals sich innerhalb der Bannmeile der Großen Stadt blicken lassen würden.
Sorren blickte wieder über den Waffenhof. Den Kopf schräg gelegt, die Hände in die Hüften gestemmt, beobachtete Paxe die trainierenden Paare. Sie war hochgewachsen und so breitschultrig wie nur einer ihrer Wachsoldaten, eine strenge, achtunggebietende Gestalt. Das kurzlockige Haar trug sie ganz eng am Schädel anliegend. Sorren rutschte auf ihrem Zaun hin und her. Die Meisterin des Kampfhofes blickte zu ihr herüber, lächelte und ruckte mit dem Kopf in Richtung zu ihrem Häuschen hin. Sorren grinste. Sie schwang die
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