Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
Ort sein, dessen war sich Sorren sicher. Zuweilen näherte sie sich dem Turm in der Dämmerung nahe genug, daß sie ein Licht hinter den bernsteinfarbenen Glasscheiben schimmern sehen konnte.
Das alles hatte sie Paxe beschrieben, doch die Meisterin im Waffenhof hatte den Ort nicht gekannt.
Sorren dachte oft: Einmal, wenn meine Zeit ganz mein eigen sein wird, werde ich herausfinden, wo der Ort ist, und ich werde hingehen!
Doch ihre Mutter hatte sie als Leibeigene für die traditionellen acht Jahre an das Haus Med verdingt, und der Tag ihrer Freisetzung war noch ein ganzes, langes Jahr weit weg.
»Isak ist heute ins Haus gekommen«, sagte sie.
»Oh?« Paxe griff nach ihren Kleidern. »Was wollte er?«
»Er will vor dem Rat tanzen, wenn er zusammentritt.«
Paxe warf sich das Hemd über den Kopf. »Und Arré hat natürlich zugestimmt?« Sorren nickte. »Ich wüßte gern, worauf er aus ist.«
Ihre Stimme klang nachdenklich. »Warum sollte er auf etwas aus sein?« fragte Sorren. Sie streichelte Paxes Schenkel. Dort verlief eine lange tiefe Narbe quer über das Bein, und sie überlegte sich zum hundertstenmal, woher sie stammen mochte. Sie glaubte nicht, daß das eine Speerwunde war.
»Weil er ...«, sagte Paxe, »weil er sie haßt. Ich erinnere mich, als Shana, Arrés Mutter noch lebte und Arré von ihr lernte, wie man den Bezirk verwaltet. Schon damals hat Isak sie gehaßt.«
Aus dem Waffenhof drang die Stimme von Dis, dem zweiten Wachoffizier, und erteilte den Soldaten Befehle. Paxe reckte sich auf. »Ich muß gehn, chelito. Wir sehen uns dann noch.« Sie preßte einen Augenblick lang die Lippen auf Sorrens Haar, dann stand sie auf. In ihrem dunklen, strengen Gesicht blitzten ihre Zähne.
Sie verschwand die Treppe hinab. Sorren blieb still sitzen und lauschte Paxes Schritten. Dieses Schlafgemach war wie Paxe selbst: kühl, sauber und von strenger Schönheit. Es lagen keine Matten auf dem Boden, die Wände waren aus Rotholz und nackt, ohne Tapisserien. Sorren begann sich das Haar zu Zöpfen zu flechten, erinnerte sich daran, daß sie nichts bei sich hatte, womit sie es binden konnte. Also ließ sie es lose hängen und stieg in den unteren Raum hinab.
Als sie um die Ecke des Hofes bog, um zum Haus zurückzukehren, sah sie Ricard, der auf sie wartete. Innerlich mußte sie lächeln, als er neben ihr Tritt faßte. Sie wartete, daß er zu reden beginnen möge, doch er schwieg verbissen und runzelte die Stirn. Schließlich wurde es Sorren zu langweilig.
»Willst du mir diese Geschichte nicht zu Ende erzählen?« fragte sie.
Er warf ihr einen verärgerten Blick zu. »Nein.« Auf dem Hof erteilte Paxe Anweisungen, ihre Stimme hallte zwischen den Zaunplanken hindurch. »Was hast du ihr gesagt?«
»Wem?«
»Meiner Mutter.«
Sie kratzte sich an der Nase. »Nichts über dich.«
Wenn es möglich gewesen wäre, so wurde sein Gesicht noch mürrischer. Doch immerhin brachte er ein gemurmeltes »Danke« zustande.
Sorren fragte sich, warum er in der Stadt blieb, wenn er sie so verabscheute. »Ricard?« fragte sie. »Hast du je von hier weggehen wollen? Reisen wollen?«
Er gaffte sie an, als hätte sie begonnen, in der Asechsprache zu ihm zu reden. »Was für einen Unterschied würde das schon machen?« sagte er.
Sorren konnte nicht erraten, ob dies nun ja oder nein bedeutete. Ricard trollte sich zögernd. Er stieß mit der Fußspitze immer wieder heftig gegen die Ziegelplatten des Hofes. Sorren hatte einmal gehört, wie Arré und Paxe sich seinetwegen gestritten hatten. Arré war der Ansicht gewesen, Paxe solle ihn in den Norden schicken, in die Weinfelder. »Myra wird ihn schon zum Arbeiten bringen«, hatte Arré gesagt. Und Sorren gab ihr recht. Doch Paxe wollte es nicht.
Vielleicht wäre Ricard ja ein angenehmerer Mensch, dachte Sorren, wenn er Brüder oder Schwestern hätte. Paxe hatte zwei Kinder vor ihm geboren, aber sie waren beide gestorben.
Sie betrat das Haus durch die Küchentür. Der Koch war unsichtbar. Die Küchenhilfen kauerten in einem verschwörerhaften Kreis beisammen. Sorren nahm den deutlich süßlichen Duft von Himmelskraut wahr. Sie reichten ihr die Pfeife, als sie sich zu ihnen hinabbeugte, und sie saugte langsam den scharfen narkotisierenden Rauch ein. Dann gab sie die Pfeife an Lalith weiter. Sie wanderte im Kreis und langte erneut bei ihr an. Sie rüttelte die Pfeife sanft, um die Himmelskrautflocken zu lockern, und machte einen letzten Zug.
Still ging sie dann nach oben. Ihr Zimmer lang im
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