Die Chroniken der Nebelkriege 1: Das Unendliche Licht
Lohenfänger zuraste und in die offene Leuchte krachte. Winselnd kollidierte das Flammenmännchen mit seinem Artgenossen und man hörte ein lautes Puffen. Funken stoben zu Boden.
Kai traute seinen Augen nicht. In der Laterne befand sich jetzt nur noch ein einziges Irrlicht. Doch dieses war fast doppelt so groß wie jene beiden, aus denen es entstanden war.
»Bei allen Geistern!«, war hinter ihm der aufgeregte Ruf seiner Großmutter zu hören. Längst war die alte Frau aufgesprungen und präparierte hastig auch die beiden anderen Laternen mit Bernsteinstaub.
Kaum war sie damit fertig, nahte auch schon das dritte Irrlicht. Im Zickzack schoss es auf sie zu.
»Schließ die Laterne, Junge!«
Kai, der das große Irrlicht noch immer entgeistert anstarrte, wurde durch den Schrei wachgerüttelt. Er zog die Rute zu sich heran und fischte hastig nach der Klappe. Verflixt! Der kupferne Riegel war sengend heiß! Er versuchte es noch einmal, und endlich gelang es ihm, die Laterne zu verschließen.
Gerade noch rechtzeitig. Denn in diesem Moment brauste das nächste Irrlicht durch das Schilf. Und ein viertes war dicht hinter ihm. Kai zuckte zusammen und roch verbranntes Haar, so nah war ihm die kleine Feuergestalt gekommen. Gierig umkreiste das Irrlicht die verschlossene Laterne, die Kai schnell wieder von sich fort hielt. Dann war auch das vierte Irrlicht herangekommen. Fast gleichzeitig entdeckten die beiden Flammengestalten die anderen Köder. Kais Großmutter kam gerade noch dazu, ihre Last fallen zu lassen, als die Lohenmännchen wie zuckende Kugelblitze in die Lampen einschlugen. Eine der Laternen kippte um und eine Weile war nur ungestümes Prasseln zu hören. Rasch bückte sich seine Großmutter und verriegelte die Kupferleuchten. Schwer atmend erhob sie sich wieder und starrte Kai fassungslos an. »Du meine Güte«, flüsterte die alte Frau und fasste sich ungläubig an ihre Brust. Und dann noch einmal. »Du meine Güte! Wie hast du das gemacht?«
»Ich weiß es nicht. Ich hab ... was anderes ausprobiert.« Der Junge bohrte den Lohenfänger so in den Schlick, dass er nicht umkippen konnte. Beiläufig klopfte er sich den Dreck von der Kleidung und endlich löste sich seine Anspannung. Er lachte. »Fünf Irrlichter in einer Nacht, Großmutter. Fünf! Nein, jetzt sind es vier. Aber eines so groß, dass sich die Händler aus Hammaburg gegenseitig überbieten werden.« Die alte Frau trat zögernd an das riesige Irrlicht heran. Es brannte satt und zufrieden. »Freust du dich denn nicht?«
»Oh doch«, presste sie hervor und rang sich ein Lächeln ab. »Kein Irrlichtjäger, den ich kenne, hat je so etwas vollbracht wie du eben. Wie auch immer du das angestellt hast, es war ... unglaublich. Mir scheint, aus dir wird noch ein Großer. Ja, ein ganz Großer.« Kai lächelte stolz und wollte bereits die Laterne von der Rute knüpfen, als er die Hand der Großmutter an seinem Arm spürte.
»Mein Junge, was auch immer du da entfesselt hast, es ist nicht ungefährlich. Ich hoffe, du weißt das.«
Kai nickte irritiert. Doch als er das große Irrlicht betrachtete, war die Warnung schnell wieder vergessen.
Ruhe vor dem Sturm
Kai schlug die Augen auf und blinzelte. Vogelgezwitscher hatte ihn geweckt. Es musste bereits später Vormittag sein. Die Sonne stand hoch am Himmel und kitzelte ihn mit ihren warmen Strahlen durch das halb geöffnete Fenster.
Sofort stürmte wieder die Erinnerung an die letzte Nacht auf ihn ein. Er war jetzt kein Lehrling mehr, sondern ein richtiger Irrlichtjäger. Und wenn seine Großmutter Recht hatte, dann würde aus ihm der fähigste Irrlichtfänger weit und breit werden. Munter schlug Kai die Bettdecke zurück, sprang auf die Füße - und musste sich einen Moment lang am Bettpfosten festhalten. Ihm war schwindlig. Offenbar hatte ihn die Irrlichtjagd mehr angestrengt, als er geglaubt hatte.
Den ganzen Heimweg über hatte ihn seine Großmutter ausgefragt. Alles wollte sie wissen. Wie er sich gefühlt hatte. Was er gefühlt hatte. Wann ihm das neue Lied eingefallen sei. Das und vieles mehr. Dabei wusste er selbst nicht so genau, was gestern geschehen war. Wütend war er gewesen. Ja. Und er schämte sich deshalb ein bisschen. Doch diese Wut hatte etwas in ihm geweckt, dessen er sich bis zur letzten Nacht nicht bewusst gewesen war. Wenn er in sich hineinlauschte, spürte er, dass dieses Gefühl noch immer in ihm schlummerte. Strahlend und kraftvoll wie die Sonne, doch zugleich auch irgendwie quälend.
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