Die Chroniken der Nebelkriege 1: Das Unendliche Licht
schon mit den Moorgeistern zugehen, sollte es ihnen gelingen, mehr als zwei Irrlichter an einem Abend einzufangen. Aber man wusste ja nie. Bei Vollmond war alles möglich. Kai kramte die mit dicken Tüchern umwickelte Teekanne hervor und kurz darauf dampfte es aus einer hölzernen Schale, die er der alten Frau reichte. Seine Großmutter lächelte und strich ihm liebevoll das schwarze Haar aus dem Gesicht. »Dank dir, mein Lieber.« Vorsichtig nahm sie einen Schluck und betrachtete ihn. »Du weißt, dass es mir schwer fällt, streng mit dir zu sein.«
»Ach, das bist du doch gar nicht.« Kai tat so, als sei er ganz damit beschäftigt, sich die getrockneten Mistelbeeren aus den Ohren zu pulen. Er wusste selbst, dass der heutige Abend über seine Zukunft entschied.
»Eben. Ich frage mich nur, ob ich dir damit einen Gefallen getan habe«, sagte sie nachdenklich. »Ich werde älter. Mir tun die Knochen vom vielen Auf-der-Lauer-liegen weh. Ich weiß nicht, wie lange ich diese beschwerlichen Moorgänge noch machen kann.«
»Unsinn, du wirkst jünger als die meisten im Ort«, entgegnete Kai. »Du wirst noch in zehn Jahren mehr Irrlichter fangen als jeder andere in Lychtermoor. Du bist die beste Irrlicht-jägerin weit und breit.«
Seine Großmutter rollte mit den Augen und schob sich ihr Kopftuch zurecht. »Du weißt, dass das nicht stimmt.«
»Mach dir keine Sorgen«, beruhigte sie Kai. »Du hast mich alles gelehrt, was ich wissen muss.«
»Der schwierigste Teil der Arbeit besteht darin, die Irrlichter anzulocken. Man muss ... ein Talent dafür besitzen.«
»Ich weiß, Großmutter. Das sagst du jedes Mal. Aber die Melodie, die ich mir ausgedacht habe, ist so traurig, da kommen sogar dir die Tränen.«
Kais Großmutter schmunzelte wider Willen.
»Und mein Instrument ist ebenfalls fertig«, fuhr Kai fort. Er griff entschlossen zu seinem Tornister, öffnete die Verschlüsse und zog stolz eine kunstvoll geschnitzte Flöte aus graubraunem Eichenholz hervor.
Gemäß der alten Tradition der Irrlichtjäger hatte er letztes Jahr zur Sommersonnenwende alleine eine Nacht unter freiem Himmel verbracht. Im verwilderten Garten der alten Mühle hatte er sein Nachtlager aufgeschlagen. Stundenlang hatte er dort den fernen Bo-huu-Rufen der Steinkäuze gelauscht, dem geisterhaften Schwirren der Nachtfalter nachgespürt und sich vom Quaken der Kröten im Moor einlullen lassen.
Dann, als der Schlaf nahte, war er in sich gegangen, um sich ein Instrument vorzustellen, das zu ihm passte. Die Flöte, das Material, selbst ihre äußere Gestalt hatten sich ihm im Traum seltsam klar enthüllt.
Zwei Monate hatte es gedauert, bis er eine Eiche fand, deren Holz ihm geeignet erschien. Den ganzen Winter über hatte er an der Flöte gearbeitet. Und tatsächlich wirkte sie, als wäre sie direkt seinem Traum entsprungen. Es war, als sei ihm dieses Instrument vorherbestimmt gewesen. Schon aus diesem Grund war sich Kai sicher, dass er heute Erfolg haben würde. Seine Wangen glühten vor Aufregung. Wie oft hatte er sich diesen Abend in Gedanken ausgemalt.
»Ich verspreche dir, Großmutter, ich werde dich nicht enttäuschen.«
Zuversichtlich knüpfte er eine der Laternen von seinem Tornister und verankerte sie am Ende des Lohenfängers. Seine Großmutter löste derweil den kleinen Beutel an ihrem Gürtel, in dem sich der kostbare Bernsteinstaub befand. So, wie er es gelernt hatte, streute Kai etwas davon auf den Boden der Lampe und begab sich wieder zurück zu ihrem Schilfversteck. Diesmal achtete er darauf, dass er festen Boden unter den Füßen hatte, als er sich abermals hinter den langen Halmen niederließ.
Die Sonne war nun endgültig hinter dem Horizont verschwunden und der Mond tauchte das Moor in sein fahles Licht. Abgesehen vom Flattern eines Birkhuhns, das irgendwo in der Ferne zu hören war, herrschte absolute Stille. Selbst die Kröten blieben heute stumm.
Ungerührt verstopfte Kai seine Ohren wieder mit den getrockneten Mistelbeeren und wartete eine Weile, bis sich sein Herzschlag beruhigt hatte. Dann setzte er die Flöte an und begann feierlich seine Weise anzustimmen.
Die Töne, die Kai der Eichenflöte entlockte, waren weich und schwer. Die Melodie war anders als jene, derer sich seine Großmutter bedient hatte, doch sie klang ähnlich traurig. Wehmütig erfüllte sie die Nacht mit ihrem Klang. Geübt wanderten Kais Finger über das Instrument und zunehmend vergaß er alles um sich herum.
Er wusste nicht, wie lange er schon in
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