E.M. Remarque
I
D as Skelett 509 hob
langsam den Schädel und öffnete die Augen. Es wußte nicht, ob es ohnmächtig
gewesen war oder nur geschlafen hatte. Zwischen dem einen und dem anderen
bestand auch kaum noch ein Unterschied; Hunger und Erschöpfung hatten seit
langem dafür gesorgt. Beides war jedes mal ein Versinken in moorige Tiefen, aus
denen es kein Auftauchen mehr zu geben schien.
509 lag eine Weile still und horchte. Das war eine alte Lagerregel; man wußte
nie, von welcher Seite Gefahr drohte, und solange man sich unbeweglich hielt,
hatte man immer die Chance, übersehen oder für tot gehalten zu werden – ein
einfaches Gesetz der Natur, das jeder Käfer kennt.
Er hörte nichts Verdächtiges. Die Wachen auf den Maschinengewehrtürmen waren
halb am Schlafen, und auch hinter ihm blieb alles ruhig. Vorsichtig wandte er
den Kopf und blickte zurück.
Das Konzentrationslager Mellern döste friedlich in der Sonne.
Der große Appellplatz, den die SS humorvoll den Tanzboden nannte, war nahezu
leer. Nur an den starken Holzpfählen, rechts vom Eingangstor, hingen vier
Leute, denen die Hände auf dem Rücken zusammengebunden waren. Man hatte sie an
Stricken so weit hochgezogen, daß ihre Füße die Erde nicht mehr berührten.
Ihre Arme waren ausgerenkt. Zwei Heizer vom Krematorium vergnügten sich damit,
aus dem Fenster mit kleinen Kohlestücken nach ihnen zu werfen; aber keiner der
vier rührte sich mehr. Sie hingen schon eine halbe Stunde an den Kreuzen und
waren jetzt bewußtlos.
Die Baracken des Arbeitslagers lagen verlassen da; die Außenkommandos waren
noch nicht zurück. Ein paar Leute, die Stubendienst hatten, huschten über die
Straßen.
Links neben dem großen Eingangstor, vor dem Strafbunker, saß der SS-Scharführer
Breuer. Er hatte sich einen runden Tisch und einen Korbsessel in die Sonne
stellen lassen und trank eine Tasse Kaffee. Guter Bohnenkaffee war selten im
Frühjahr 1945; aber Breuer hatte kurz vorher zwei Juden erwürgt, die seit sechs
Wochen im Bunker am Verfaulen gewesen waren, und er hielt das für eine
menschenfreundliche Tat, die eine Belohnung verdiente. Der Küchenkapo hatte ihm
zu dem Kaffee noch einen Teller mit Topfkuchen geschickt. Breuer aß ihn
langsam, mit Genuß; er liebte besonders die Rosinen ohne Kerne, mit denen der
Teig reichlich gespickt war. Der ältere Jude hatte ihm wenig Spaß gemacht; aber
der jüngere war zäher gewesen; er hatte ziemlich lange gestrampelt und
gekrächzt. Breuer grinste schläfrig und lauschte auf die verwehenden Klänge der
Lagerkapelle, die hinter der Gärtnerei übte. Sie spielte den Walzer »Rosen aus
dem Süden«, ein Lieblingsstück des Kommandanten, Obersturmbannführers Neubauer.
509 lag auf der gegenüberliegenden Seite des Lagers, in der Nähe einer Gruppe
von Holzbaracken, die durch einen Stacheldrahtzaun vom großen Arbeitslager
getrennt waren. Sie wurden das Kleine Lager genannt. In ihr befanden sich die
Gefangenen, die zu schwach waren, um noch arbeiten zu können. Sie waren dort,
um zu sterben. Fast alle starben rasch; aber neue kamen immer schon, wenn die
anderen noch nicht ganz tot waren, und so waren die Baracken stets überfüllt.
Oft lagen die Sterbenden selbst in den Gängen übereinander, oder sie krepierten
einfach draußen im Freien. Mellern hatte keine Gaskammern. Der Kommandant war
darauf besonders stolz. Er erklärte gern, daß man in Mellern eines natürlichen
Todes stürbe. Offiziell hieß das Kleine Lager die Schonungsabteilung; doch es
gab nur wenige Insassen, die genug Widerstand aufbrachten, um die Schonung
länger als ein bis zwei Wochen durchzuhalten. Eine kleine zähe Gruppe davon
hauste in Baracke 22. Sie
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