Die Cromwell Chroniken 02 - Grabes Hauch
verließ ihn der Mut. Er wollte es Fowler erklären, fand aber keine Worte. Wie erklärt man jemandem, dass man so durcheinander ist, dass man nicht einmal weiß, ob man sich selbst die Schuhe binden kann?
Ruhig betrachtete ihn Sir Fowler, die Rechte vor sich, mit der Handfläche nach oben, auf den Tisch gelegt.
„Wenn du jetzt einen Hauch, nur den kleinsten Hauch einer Möglichkeit siehst, dass du es wollen könntest, dann schlag ein und ich werde dir helfen, dich wieder in der Welt zurechtzufinden. Ich weiß, dass die Medikamente, auf die du so sehr vertraust, dir gerade jeden Lebenswillen nehmen. Aber wenn du nur einen ganz kleinen Impuls spürst, dass du dein Leben wieder selbstbestimmt leben möchtest, dann nimm meine Hand und ich hole dich hier raus und bringe dich nach Cromwell.“
Und Flint hatte seine Hand genommen und er war nach Cromwell gekommen. Zuerst war es eine große Umstellung gewesen. Man hatte ihn noch einige Wochen in der Psychiatrie behandelt, um seine Medikation langsam zu senken und ihn auf seine Entlassung vorzubereiten. Er hatte viel Unterstützung erhalten, doch niemand hatte ihn darauf vorbereiten können, wie es war, wieder mit zwei Duzend Gleichaltrigen in einem Raum zu sitzen und sich täglich mit Hunderten von Menschen in einem Speisesaal aufzuhalten. Es fiel ihm unsagbar schwer. Und er hatte sich wieder angewöhnen müssen, den Leuten nicht ins Gesicht zu sehen. Das war eines der Dinge, die er an der Psychiatrie geschätzt hatte.
Na gut, sie haben mich für einen Bekloppten gehalten, aber zumindest war ich nicht bekloppter als die anderen dort.
Hier fiel sofort auf, dass er anders war. Doch eines war niemals nötig gewesen: Er hatte nicht ein einziges Mal die Hilfe von Sir Fowler nötig gehabt – und das machte ihn stolz. Und trotz allem war das letzte halbe Jahr in Cromwell das beste seines Lebens gewesen.
Doch jetzt bin ich wieder hier. In diesem stinkenden Loch.
Missmutig musterte er den Klingelknopf, dessen Plastik vergilbt war. Auch das Namensschild war in einem heruntergekommenen Zustand: von der Sonne ausgebleicht und seit über einem Jahrzehnt nicht mehr gesäubert. Die Haustür und der Boden davor machten ebenfalls einen abstoßenden Eindruck. Schmutz hatte sich schon seit so vielen Jahren dort breitgemacht, dass eine klebrige Schicht bereits dazugehörte.
Wie kann man hier nur freiwillig leben?
Doch er wusste genau, dass es sich bei all diesen Gedanken nur um ein Ablenkungsmanöver handelte. Er wollte dieses eklige, dreckige Haus nicht betreten und er wollte niemanden aus seiner schrecklichen Vergangenheit treffen.
Ein lautes Johlen holte ihn zurück in die Wirklichkeit. Eine Gruppe Halbstarker war um die Ecke gebogen und kam nun auf ihn zu. Einen der Unruhestifter kannte Flint.
Oh nein, nicht der!
Udo Pötz hatte mit Flint die Grundschule besucht. Der Geisterseher war damals fortlaufend von diesem Idioten gepiesackt und als Punchingball missbraucht worden und mehr als einmal grün und blau geschlagen nach Hause gekommen.
Manchmal kann es so leicht sein, sich zu entscheiden.
Schnell drückte er auf die Klingel.
Nichts passierte.
„HEY! Kenne ich dich nicht?“, brüllte Udo in diesem Moment.
Sie hatten ihn entdeckt.
Ach nein, komm schon!
Flint klingelte noch einmal, ohne sich umzudrehen.
Keine Reaktion.
„Du bist doch der Komische von damals!“
Da Udos und Flints geistiges Niveau um Längen auseinanderklaffte, hatten sie lediglich die Grundschule gemeinsam besucht. Flint war dieser Umstand entgegengekommen, doch jetzt schien ihn die Vergangenheit einzuholen.
Er sah auf die Uhr.
15 Uhr – er müsste doch zu Hause sein! Er weiß genau, dass ich komme.
Würde sein Vater ihn wirklich vor der Tür stehen lassen? Die Frage war nicht unerheblich, da sich der Schlägertrupp nun um ein ganzes Stück genähert hatte.
Komm schon, mach auf!
Flint klingelte erneut. Diesmal drückte er den Knopf länger und energischer.
„HEY! Ich rede mit dir!“
Noch zwanzig Meter, dann würde Udo bei ihm ankommen.
„Hey, du Penner!“
Flint hielt die Klingel nun dauergedrückt.
Fünfzehn Meter.
„Na warte! Dir zeig ich’s!“
Zehn Meter.
Der Türöffner summte.
Das war die pure Erlösung für Flint, der nun hastig seine Tasche schnappte und die Tür aufdrückte. Die Kerle fingen an zu rennen. Schnell trat der Geisterseher hinein und schob von innen die Tür zu. Er hatte sie fast geschlossen, da drückte jemand von außen dagegen. Die Tür öffnete sich
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