Die Cromwell Chroniken 02 - Grabes Hauch
die Schüler, die in ihren Schulen bisher unterfordert waren.“
Schwerfällig richtete sich Flint auf und sah den Mann ungläubig an. Eine Weile war es still im Raum.
„Haben Sie mein Zeugnis überhaupt schon einmal gesehen?“
„Wenn ich ehrlich bin … nein, das habe ich nicht“, schmunzelte der alte Mann. Flints Scharfsinnigkeit schien ihn zu amüsieren. „Doch das ist auch nicht weiter wichtig. Ich beziehe mich auf andere Talente, die in dir schlummern“, fuhr er fort.
„Ach, und was für Talente sollen das bitte schön sein?“
Flint betrachtete den Mann abwartend.
Dieser zwinkerte ihm zu.
„Kannst du dir das wirklich nicht denken?“
Beide schwiegen.
„Sie sind einer von denen?“
„Nun, wenn du es so nennen möchtest, dann: Ja, ich bin einer von denen.“
„Zu welchen genau gehören Sie?“
„Ich denke, du beziehst dich auf den Orden? Ich bin keinem beigetreten. Ich bin ein Einzelgänger.“
Das schmerzhafte Klopfen in Flints Schädel hatte zugenommen. Er verzog das Gesicht.
„Und wo ist diese Schule … Uni … was auch immer?“
„Cromwell ist hier, in Berlin. Auf einem privaten Grundstück. Wir legen Wert auf Diskretion, deshalb liegt das Anwesen sehr versteckt.“
„Wie praktisch!“
„Praktisch und dringend notwendig, fürchte ich.“
Egal, wie sehr ihn der junge Mann provozieren wollte, Sir Fowler war und blieb freundlich.
Flint massierte seine Schläfen und bemühte sich, über das Gesagte nachzudenken. Hier in Berlin. Eine Uni für Begabte. Wer kommt auf so eine kranke Idee? Und was wollen die mit mir? Was könnte ich dort schon machen?
„Was soll ich in dieser … Bildungseinrichtung? Was wollen Sie von mir? Ich lasse mir ganz sicher keine Kabel an den Kopf kleben oder sonst so Späße!“
„Aber mein Junge, wo denkst du hin? Wir wollen nichts dergleichen von dir. Wir bieten dir etwas an. In Cromwell kannst du deine Fähigkeiten ausbauen und kontrollieren lernen. Außerdem bekommst du eine Ausbildung in allem, was du wissen musst, und sogar noch einen staatlich anerkannten Abschluss.“
„Fähigkeiten kontrollieren, von wegen!“
„Nun, ich denke, einen Versuch ist es wert.“
Fowler warf Flint einen mitfühlenden Blick zu und der UMBRATICUS DICIO erkannte, dass der Rektor bestens über ihn und seine Fähigkeiten Bescheid wusste.
„Das kann sich mein Vater niemals leisten“, murmelte er.
„In deinem Fall wird eine Stiftung für die Unkosten aufkommen. Das ist bereits geregelt. Über finanzielle Angelegenheiten brauchst du dir keine Gedanken zu machen.“
Der junge Geisterseher richtete den Blick zum Fenster. Weiße Gitterstäbe unterteilen das Bild, das sich ihm bot, in kleine Karos. Gegen seinen Willen stellte sich zunehmend ein Gefühl ein, das Flint um jeden Preis zu unterdrücken gedachte: Hoffnung! Hoffnung darauf, hier herauszukommen und ein ganz normales Leben zu führen. Frei!
Unsinn! Was für ein normales Leben soll ich schon führen? Ich brauche die Medikamente und die Ärzte werden mich ja auch nicht so einfach hier herausspazieren lassen! Bloß keine Illusionen! So was wird nur enttäuscht.
„Sie kriegen mich hier niemals raus. Wissen Sie überhaupt, warum ich hier bin?“
Langsam drehte er sich zu Fowler zurück. Auf einmal wirkte der Raum viel dunkler. Als hätten sich die düsteren Wolken der Realität vor die Sonne seines Enthusiasmus geschoben. Deprimiert blickte er seinen späteren Rektor an.
„Ich weiß, warum du hier bist. Und ich bin bereit, dir eine neue Chance zu geben“, sagte dieser.
„Die lassen mich nicht raus.“
Flints Stimme klang tonlos.
„Ich habe bereits mit dem Richter gesprochen.“
„Das haben Sie?“
„Gewiss. Er hat mir eine Berechtigung erteilt, um dich hier raus und nach Cromwell zu bringen.“
Die Augen des jungen Geistersehers weiteten sich vor Erstaunen.
Wer ist dieser Mann, dass er sogar Einfluss auf einen Richter nehmen kann? Einfach so? Und in diesem Fall!
Flint sah schweigend auf seine Hände.
„Ich habe den Gerichtsbescheid bei mir. Sobald ich dein Okay habe, gehe ich zum Oberarzt und erwirke, dass du entlassen wirst. Doch nur, wenn du es auch willst.“
Der junge Mann war ganz benommen von den sich überschlagenden Ereignissen. Ich kann raus! Ich kann raus! Mehr vermochte er nicht zu denken.
Seine Augen waren feucht geworden. All der Schmerz und der Frust der letzten Monate kamen in ihm hoch. Er hatte bereits ein ganzes Jahr hier verbracht und jetzt, da er endlich raus durfte,
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