Die da kommen
widersprüchliche Welt. Als ich das begriffen hatte, konnte ich die Gedankensysteme meiner Mitmenschen besser erschließen und mich von der frustrierten Verblüffunglösen, die mich durch meine Kindheit und Teenagerzeit verfolgt hatte. Ich übte mich darin, mentale Ablaufdiagramme zu zeichnen, um den Widerhall tatsächlicher Ereignisse wie auch hypothetischer Szenarien nachzuvollziehen. Beim Aufspüren von Erzählmustern in den überlappenden Kreisen von Venn-Diagrammen – noch immer mein bevorzugtes Hilfsmittel – erkannte ich die unendliche Vernetzung der menschlichen Imagination und des Gedächtnisses.
Mithilfe dieser Schablonen habe ich mein Verhalten angepasst. Unter Anleitung von Professor Whybray habe ich gelernt, einige Verhaltensweisen, die ich beobachtet hatte, nachzuahmen und mich ihnen anzugleichen. Ich war nicht der Erste: Schon andere hatten ihren scheinbaren Nachteil mit großem Erfolg genutzt, wie er mir verriet – darunter auch ein international gefeierter Professor für Verhaltenspsychologie. Dennoch ist mir klar, dass mir immer noch einige ganz gewöhnliche soziale Verhaltensformen fehlen.
Männer wie Ashok, mein Boss bei Phipps & Wexman, nehmen mich so, wie ich bin. Bei Frauen ist das anders. Sie sehen einen großen, dunklen, gut gebauten Mann mit markanten Gesichtszügen, und diese klassische Kombination löst etwas auf der Zellebene aus: einen biologischen Imperativ. Wenn sie dann feststellen, dass meine Persönlichkeit nicht zu dem Wunschdenken passt, das meine »Attraktivität« auslöst, sind sie grenzenlos enttäuscht. Und oft verstörend zornig.
Ashok hat einmal gesagt: »Wir sind alle Lügner, Kumpel. Das liegt in der menschlichen Natur.«
Nein, dachte ich. Du irrst dich. Durch eine Laune der DNA bin ich nicht Teil dieses »wir«. Ich kann von Dingen besessen sein. Oder abgelenkt werden. Man sagt mir auch nach, ich könne brutal wirken.
Aber ich kann richtig und falsch unterscheiden. Und ich verehre die Wahrheit.
Daher werden Sie in mir zumindest einen ehrlichen Erzähler finden.
In den Tagen nach dem Angriff von Harrogate wollte das kleine Mädchen im blauen Pyjama mit den Schmetterlingen nicht sprechen.
M ÄDCHEN TRÄUMT VOM H IMMEL –
UND ERSCHAFFT H ÖLLE AUF E RDEN
D IE H ASS -S CHÜSSE EINES KRANKEN E NGELS
Was würde als Nächstes mit dem Kind geschehen, dessen Traum von einer funkelnden, weißen Wüste solch reißerische Schlagzeilen gebar? Während ich über die verschiedenen Möglichkeiten spekulierte, stellte ich mir vor, dass die Familie in eine andere Gegend oder sogar ins Ausland ziehen und dort ein neues Leben beginnen würde. Das Kind würde mitkommen, falls der Vater es noch in seiner Nähe ertragen konnte. Falls nicht, würde man es in einem geschlossenen Heim unterbringen. Zugegeben, ich hielt den Fall für ebenso einzigartig wie isoliert: eine Sache, die für sich stand und aus sich geboren war. Ich stelle von Natur aus gern Zusammenhänge her, doch hier fand ich keine Anhaltspunkte dafür.
Dann kam der beunruhigende Anruf wegen Sunny Chen, und meine Gedanken wurden schlagartig auf Taiwan umgelenkt. Die drastischen Ereignisse, die folgten, verdrängten Kind Eins vollkommen aus meinem Bewusstsein.
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Das als Hexenring bekannte Phänomen wird durch Pilzfruchtkörper verursacht, die sich kreisförmig um eine biologisch tote Zone ausbreiten. Im europäischen Volksglauben stellen sie ein Tor zur Welt der Feen oder Hexen dar, ein Paralleluniversum mit eigenen Gesetzen und Zeitdimensionen. Die Ringe zeugen von dunklen Kräften: Dämonen, Sternschnuppen, Blitzeinschlägen.
Es bringt Unglück, in einen solchen Ring zu springen.
Aus der Luft sieht Taipeh wie ein Hexenring aus: eine Stadt in einem Krater, eingekesselt von Bergen.
Meine Maschine landete am frühen Morgen, doch die Hitze des Tages war schon zu spüren. Auf dem Flug von Manchester nach Taipeh hatte ich mein Mandarin mit Audiolektionen aufgefrischt. Als der letzte Abschnitt zu Ende war, fing ich wieder von vorn an. Ich hörte den gesamten Kurs drei Mal. Ich habe mal einen Intensivkurs in Schanghai besucht, weil ich hoffte, Teile meiner Doktorarbeit verbessern zu können. Linguistisch gesehen bin ich eher ein Leser als ein Sprecher, daher fand ich die Begriffszeichen am interessantesten. Ich schrieb seitenweise chinesische Buchstaben ab und übersetzte sie mithilfe des Wörterbuchs.
Die Bemühungen im Flugzeug zahlten sich aus. Der Taxifahrer verstand mich, als ich ihm die entsprechenden
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