Die Dämonen ruhen nicht
zärtlich hat Jay ihr Handgelenke und Knöchel nur locker gefesselt, so-dass ihr das gelbe Nylonseil nicht das Blut abschnürt. Er hat ihr erklärt, das Seil werde ihre zarte Haut nicht aufschürfen, solange sie sich nicht sträubt.
»Es ist sowieso zwecklos, dass du dich wehrst«, meinte er mit einer Baritonstimme, die ausgezeichnet zu seiner dunklen Schönheit passt. »Und knebeln werde ich dich auch nicht. Denn Schreien bringt dir genauso wenig, verstanden?«
Als sie nickte, musste er lachen, denn es sah aus wie ein Nein, obwohl sie natürlich Ja meinte. Doch er hat Verständnis dafür, dass bei Menschen in Todesangst — ein Wort, das ihm stets absolut unzulänglich erschienen ist - die Gedanken und Handlungen durcheinander geraten. Wahrscheinlich hatte Samuel Johnson, als er sich im achtzehnten Jahrhundert mit den vielen Ausgaben seines »Wörterbuchs der englischen Sprache« abmühte, keinerlei Vorstellung davon, was ein menschliches Wesen empfindet, wenn er oder sie Grauen oder den Tod erwartet. Diese Erwartung führt zu panischen Signalen in jedem Neuron und jeder Körperzelle, die weit über bloße Angst hinausgehen. Aber selbst Jay, der mehrere Sprachen fließend beherrscht, kennt kein besseres Wort, um die Leiden seiner Opfer zu beschreiben.
Die kalte Hand des Grauens.
Nein.
Er mustert die Frau. Sie ist ein Lamm. Es gibt im Leben nur zwei Sorten von Menschen: Wölfe und Lämmer.
Jays Entschlossenheit, die Gefühle seiner Lämmer bis in die letzte Nuance auszuloten, ist zu einer gnadenlosen, an Besessenheit grenzenden Mission geworden. Das Hormon Epinephrin - Adrenalin - ist der Stoff, der einen ganz normalen Menschen in ein niederes Lebewesen verwandelt, das nicht mehr Verstand und Logik besitzt als ein gefangener Frosch. Abgesehen von der physiologischen Reaktion, die Kriminologen, Psychologen und andere so genannte Experten als Kampf-oder-Flucht-Reflex bezeichnen, muss man zusätzlich noch die früheren Erfahrungen und die Phantasiebegabung des Lamms in Betracht ziehen. Je mehr Gewalt das Lamm zum Beispiel durch Bücher, Fernsehen, Filme oder Nachrichtensendungen ausgesetzt war, desto besser kann es sich den Albtraum ausmalen, der ihm vielleicht bevorsteht.
Aber das Wort. Das vollkommen treffende Wort. Es will ihm heute Nacht wieder nicht einfallen.
Er kauert sich aufs Deck und lauscht dem raschen, flachen Atmen des Lamms. Die Frau zittert, als das Erdbeben des Grauens (in Ermangelung des treffenden Wortes) jedes ihrer Moleküle packt und unerträgliche Verheerung unter ihnen anrichtet. Er greift hinunter in den Fischtank und berührt ihre Hand. Sie ist kalt wie der Tod. Dann presst er zwei Finger an die Seite ihres Halses, tastet nach der Karotidarterie und fühlt ihr mithilfe des Leuchtzeigers seiner Uhr den Puls.
»Etwa hundertachtzig«, teilt er ihr mit. »Bekomm keinen Herzinfarkt. So einen Fall hatte ich auch schon mal.«
Sie starrt ihn aus Augen, größer als der Vollmond, an. Ihre Unterlippe zittert.
»Das meine ich ernst. Bekomm keinen Herzinfarkt.« Er macht keinen Witz. Es ist ein Befehl.
»Hol tief Luft.«
Sie tut es. Ihre Brust zittert.
»Besser?«
»Ja. Bitte ...«
»Woran liegt es nur, dass ihr kleinen Lämmer immer so scheißhöflich seid?«
Ihr schmutziges, magentafarbenes Baumwollhemd ist schon vor Tagen aufgerissen. Er klappt die zerfetzten Hälften auf, legt ihre vollen Brüste frei, die im Dämmerlicht beben und schimmern, und fährt ihre Rundungen entlang, hinunter zu ihrem zuckenden Brustkorb und der Mulde ihres flachen Unterleibs bis zum offenen Reißverschluss ihrer Jeans.
»Es tut mir Leid«, flüstert sie, während eine Träne über ihr mit Schmutz beschmiertes Gesicht läuft.
»Jetzt fängst du schon wieder an.« Er lässt sich auf seinem Kapitänsthron nieder. »Glaubst du im Ernst, dass du mich durch Höflichkeit von meinen Plänen abbringst?« Seine schwelende Wut kocht hoch. »Weißt du, was Höflichkeit für mich bedeutet?« Er erwartet eine Antwort.
Sie versucht, ihre Lippen anzufeuchten. Ihre Zunge ist trocken wie Papier. An ihrem Hals pocht sichtbar der Puls, als wäre ein winziger Vogel dort gefangen.
»Nein.« Sie stößt das Wort hervor, Tränen fließen in ihre Ohren und ihr Haar.
»Schwäche«, sagt er.
Ein paar Frösche stimmen ein Lied an. Jay betrachtet die nackte Haut seiner Gefangenen, blass und glänzend vom Insektenschutzmittel, ein kleiner Akt der Menschlichkeit seinerseits; Grund dafür ist sein Ekel vor roten Schwellungen. Die
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