Die Dämonen ruhen nicht
Lagen gemacht ist, wo das Wasser nicht richtig abfließen kann. Wenn sie Glück hat, ist der Jahrgang vier Monate alt. Morgen wird sie einen Kater haben. Da ist sie ganz sicher.
6
Früh am nächsten Morgen empfiehlt der Mann vom Sicherheitsdienst des Kennedy Airports in New York Lucy Farinelli, ihre überdimensionierte Breitling-Uhr aus Edelstahl abzunehmen, das Kleingeld aus den Taschen zu kramen und alles auf ein Tablett zu legen.
Es ist keine Empfehlung mehr, sondern ein Befehl, als man sie auffordert, Turnschuhe, Jacke und Gürtel abzulegen und diese mitsamt ihrem Aktenkoffer auf dem Fließband zu deponieren, das die Sachen durch den Röntgenapparat transportieren wird. Außer einem Mobiltelefon, einer Haarbürste und einem Lippenstift wird nichts auf dem Bildschirm zu sehen sein. Die Mitarbeiterinnen von British Air in ihren dunklen Blazern und den marineblauen Kleidern mit rotweißen Karos sind zwar ziemlich freundlich, aber die Flughafenpolizei wirkt nervöser als sonst. Obwohl der türrahmenförmige Metalldetektor nicht anspringt, als Lucy auf Sportsocken und in rutschenden Jeans hindurchschreitet, wird sie noch mit dem Handscanner überprüft, sodass die Drahtbügel ihres BH ein Piepsen auslösen.
»Arme hochhalten«, fordert die kräftig gebaute Sicherheitsbeamtin sie auf.
Als Lucy lächelnd die Arme ausbreitet wie am Kreuz, wird sie von der Frau rasch abgetastet. Ihre Hände huschen unter Lucys Achseln und Brüste und gleiten ihre Schenkel hinauf bis zum Schritt - natürlich verläuft alles sehr professionell. Andere Fluggäste passieren unbehelligt, und insbesondere die Männer finden den Anblick der attraktiven jungen Frau mit den ausgebreiteten Armen und gespreizten Beinen sehr spannend. Doch Lucy kümmert das nicht. Sie hat schon zu viel erlebt, um Energie auf ihr Schamgefühl zu verwenden, und ist versucht, ihre Bluse aufzuknöpfen, den Bügel-BH vorzuzeigen und der Beamtin zu versichern, dass keine Batterie und auch kein winziger - sehr winziger - Sprengmechanismus daran befestigt sind.
»Es liegt an meinem Büstenhalter«, meint sie lässig zu ihr, die um einiges aufgeregter wirkt als ihr Opfer. »Verdammt, ich vergesse jedes Mal, einen BH ohne Drahtbügel anzuziehen, vielleicht einen Sport-BH oder gar keinen. Tut mir Leid, dass ich Ihnen Umstände mache, Officer Washington.« Sie hat den Namen auf ihrem Schildchen bereits gelesen. »Danke, dass Sie Ihre Arbeit so ernst nehmen. In was für einer Welt leben wir nur? Offenbar haben wir wieder Terrorwarnung, Alarmstufe orange.«
Lucy lässt die verdatterte Beamtin stehen, klaubt ihre Uhr und das Kleingeld vom Tablett und sammelt Aktenkoffer, Jacke und Gürtel ein. Dann setzt sie sich abseits auf den kalten, harten Boden, zieht die Turnschuhe an, spart sich aber das Zuschnüren. Anschließend steht sie auf, immer noch die Höflichkeit selbst, für den Fall, dass die Polizisten oder Mitarbeiter von British Airways sie beobachten. Aus der Gesäßtasche ihrer Jeans holt sie Ticket und Pass, beide ausgestellt auf einen ihrer vielen falschen Namen. Mit schlappenden Schnürsenkeln geht sie unbeirrt den gewundenen, mit einem Teppich belegten Flugsteig 10 entlang und duckt sich durch die kleine Tür der Concorde, Flug 01. Eine Flugbegleiterin der British Air kontrolliert lächelnd Lucys Bordkarte.
»Sitz 1C.« Sie zeigt auf die erste Reihe, den Gangplatz am Spant, als ob Lucy noch nie in einer Concorde gereist wäre.
Das letzte Mal ist es unter einem anderen Namen gewesen.Lucy trug eine Brille und grüne Kontaktlinsen und hatte, entsprechend ihrem Passfoto, leicht auswaschbares, schrillblaues Haar mit violetten Strähnchen. Als Beruf gab sie »Musikerin« an. Obwohl ihre nicht existierende Techno-Band Yellow Hell unmöglich jemand kennen konnte, erntete sie von vielen Leuten ein »Oh ja, hab ich schon gehört! Cool!«
Lucy verlässt sich auf die erschreckend schlechte Beobachtungsgabe der allgemeinen Bevölkerung. Sie zählt darauf, dass es niemand wagt, seine Unwissenheit zuzugeben, und dass die meisten Menschen deshalb dreiste Lügen als ihnen vertraute Wahrheiten schlucken. Gleichzeitig ist sie überzeugt davon, dass ihre Gegner alles um sich herum bemerken, und ist deshalb wie sie ständig auf der Hut.
Als der Zollbeamte besonders gründlich ihren Pass musterte, wusste sie sein Verhalten zu deuten und konnte daraus ableiten, dass zurzeit eine ausgesprochen angespannte Sicherheitslage herrscht. Interpol hat über das Internet in etwa 182 Ländern
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