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Die Delegation

Die Delegation

Titel: Die Delegation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Erler
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strahlender Busen – sie streift das Kleid über die nassen, blonden Haare, das Gesicht wird frei.
    Sie sieht die laufende Kamera, Protest, Geschrei. Das triefende Kleid fliegt gegen die Optik, sie wirft Sand und angeschwemmten Tang hinterher, schleudert Treibholz und Flaschen, stürzt sich auf Callaghean, der immer noch ohne Scham und Takt auf sie zielt; eine wildgewordene Amazone, nackt, aber unhistorisch zweibrüstig, Gott sei Dank, eine schäumende Furie, deren so unvermutet ausbrechendes Temperament der Riese Mike mit seiner freien, linken Hand nicht länger abwehren kann. Er geht zu Boden.
    Zweikampf um eine laufende Filmkamera. Ein Bilderwirbel entsteht: Aufstiebender Sand, nackte Haut, braun und naß, blitzende Zähne im dunklen Bart, eine überstrahlende Sonne, verwischte Hände.
    Salzwasser spritzt aus nassem Haar auf die Optik, zerfließt und verzerrt die Konturen.
    Ein gefährlich spitz gewordener Busen greift an, verwirrt den Gegner, entwaffnet ihn und sticht zu, immer wieder. Sieg! Sie entreißt ihm die Kamera.
    Strand, Wasser, Himmel, Meer, Licht und Schatten in rascher Folge. Das Bild steht kopf – das Mädchen flieht mit seiner Beute, ein geschlagener Riese bleibt zurück. Jonas, der Prophet, liegt im Sand mit erhobenen Händen und brüllt den Untergang des Reiches Ninive über das Land …
     
    Sie beugen sich über die Kamera: eine blonde Furie mit tropfenden Haaren und blitzenden Zähnen und ein schwarzhaariger Clown, züchtig verhüllt, mit lachenden Augen. Dazwischen Mike Callaghean und Roczinski.
    Die Kamera liegt, laufend, im Sand, filmt gegen den Himmel. Sie starren alle vier in die Optik. Auf der kreiselt ein Glitzerding, rotiert, spielt alle Farben durch, dreht sich langsamer, kommt zur Ruhe: die Kristallpyramide.
    Das Prisma zaubert einen Regenbogen über die verzerrten Gesichter. Beschwörende Gesten. Magie! Der Fetisch, der Spion der Götter, wird zum Spielzeug der Barbaren. Eine Hand greift nach ihm.
    Roczinski liegt im Sand. Er blickt zum Himmel. Auf seiner Stirn glänzt der Kristall.
    Kein Mönch mehr, kein Büßender, Betender, Beschwörender. Er zelebriert mit Hohn eine Schwarze Messe. Ein Abgefallener.
    Ein Ketzer. Ein Verräter.
    Eine mannshohe Pyramide aus Sand – nein, eher ein kegelförmiger Phallus. Eine archaische Kultstätte. Opferaltar. Auf der Spitze glitzert – der Kristall!
     
    Die Schwarzhaarige schiebt ihren mexikanischen Hut in den Nacken und beginnt zu tanzen. Ein lasziver, spanischer Rhythmus. Ansteckend.
    Die Blonde tanzt mit, barbusig, weißbrüstig. Die Füße trommeln den Sand. Auch ihr Sombrero wippt und federt nun mit. Die Mädchen greifen sich Roczinski. Kein Widerstand. Sie bilden einen Kreis um den ›Altar‹. Im Sand, wie achtlos weggeworfen, liegt die Pyramide …
    Dieses Spiel wird für Roczinski zu einem Akt der Befreiung. Das Ritual, leiblich, leibhaftig, faßbar, verscheucht den ganzen unirdischen Zauber.
    Lust am anderen, Tanz der Kamera, Haare fliegen, Busen wippen. Eine gelbe Bluse flattert davon mit dem Wind. Roczinski schnappt nach Luft, die Mädchen lassen ihn los, klatschen in die Hände, drehen sich ekstatisch, Callaghean, mit der Kamera, dreht sich mit. Das Panorama rotiert.
    Da greift Roczinski nach dem Kristall, wägt ihn in der Hand – zögert …
    Dann schleudert er ihn ins Meer.
    Er nimmt sich das zierliche schwarzhaarige Mädchen und wandert mit ihm den Flutsaum hinunter. Die Erde, so scheint es, hat ihn wieder.
     
    Aus Roczinskis Tagebuch:
     
    30. Oktober. Früher Morgen.
    Jessica schwimmt gerade ein paar Runden, um wach zu werden. Sie winkt mir zu, und mir gefällt es hier. Los Angeles. Zum erstenmal finde ich ihn schön, diesen Alptraum von Stadt. Werde hier bleiben, solange sie meine Creditcards akzeptieren. Werde mir einen Wagen kaufen und mit Jessica nach Mexiko fahren, nächste Woche, wenn ihre Eltern wieder das Haus okkupieren.
    Und vorher werde ich noch den christlichen Rat des Herrn Mitterer befolgen und die ›gewissen Beweise‹ im Meer versenken. Dicht neben der Kristallpyramide. Was heißt hier: ›Reportage meines Lebens‹? Was heißt überhaupt Karriere? – Da jagt man hinter Phantomen her – die bleiben unerreichbar – unsichtbar.
    Wo steht denn geschrieben, daß ausgerechnet Will Roczinski auserwählt sein soll?
    Phantome – soll’n die fremden Herrschaften doch selbst sehen, wie sie ihre Botschaft unter die Barbaren bringen.

 
57
 
    Anflug auf Los Angeles International Airport. Dämmerung. Links die

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