Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
anderen hatten längst aufgegeben, die Konflikte und Krisen im Hause Kasinski nachzuvollziehen, und hatten es einfach schulterzuckend zur Kenntnis genommen, dass dieses Paar ohne Streit wohl nicht existieren konnte. Aber eben auch nicht ohne einander. Immer wenn sich ein Zwist zwischen Petra und Dille zur dramatischen Phase hochgeschaukelt hatte, gab einer von beiden plötzlich nach und läutete die Versöhnung ein. Was soll man sagen: So waren sie halt, die beiden.
Ihre Kinder hatten sich inzwischen aus der Schusslinie gerettet. Jan war seit zwei Jahren als Funkingenieur mit der Marine unterwegs, die Zwillinge Lucy und Florian waren vor zwei Wochen ausgezogen. Sie hatten sich eine gemeinsame Wohnung genommen und feierten immer noch die Einweihung. Angeblich hatten sich die ersten ihrer Nachbarn bereits wegen der permanenten nächtlichen Ruhestörung beim Vermieter beschwert.
»Wie konnte Bernhard die Originalbriefmarken und die echten Poststempel auf seine Briefe kriegen?«, fragte Dilbert.
Ich hatte in Wuppertal drei Tage damit verbracht, Bernhards Leben zumindest in groben Zügen zu rekonstruieren. In seiner Wohnung hatte ich alte Gehaltsabrechnungen einer großen Spedition entdeckt. Hier hatte Bernhard nach seiner Flucht aus Hamburg eine Lehre begonnen und fast zehn Jahre lang gearbeitet. Er hatte Kontakte zu Handelspartnern in aller Welt, und einige von denen erklärten sich wohl bereit, die Briefe, die er ihnen schickte, mit lokalen Briefmarken zu versehen und in ihrem Heimatland aufzugeben.
Das erklärte ich meinen Freunden. Jörn, der die ganze Geschichte immer noch nicht ganz verstand, bekam von seinem Mann gelegentlich weiterreichende Erklärungen zugeflüstert.
»Ich habe auch so eine vierteljährliche Zeitschrift für Briefmarkensammler entdeckt«, erläuterte ich weiter. »Die bieten so einen ominösen Frankierservice an. Ich hab das nicht wirklich verstanden, aber Sammler können sich wohl so ziemlich jede Marke mit jedem beliebigen Stempel versehen schicken lassen. Auch aus dem Ausland. Und, na ja, seit der Erfindung des Internets war das Ganze ja irgendwann sowieso kein Problem mehr.«
Dille, der ganze Nächte mit Internet-Ballerspiel-Duellen verbrachte, nickte bestätigend. Ein Computernetzwerk, das es ihm ermöglichte, in Echtzeit einen Teenager aus Oklahoma beim Quake -Duell zu besiegen, war zu allem fähig!
»In Bernhards Wohnzimmer stand ein Computer. Und ich habe einen Kontoauszug gefunden«, berichtete ich. »Bernhard zahlte über 200 Mark im Monat an AOL.«
Ich stellte mir vor, wie mein Freund jeden Tag, vom Alkohol benebelt, durchs Netz surfte, Bilder und Menschen aus aller Welt sammelte, sich das Leben zusammenträumte, das er uns dann in seinen Briefen schilderte. Da saß er dann, verfilzt und verwahrlost, und fantasierte sich in die Rolle eines Abenteurers, eines Menschenretters, eines Helden. Es war eine schreckliche Vorstellung, trauriger als alles, was ich je zuvor durchdacht hatte.
Ich hatte in Wuppertal niemanden gefunden, der Bernhard näher kannte. Alle Nachbarn und ehemaligen Kollegen, mit denen ich sprach, schilderten ihn als verschreckten Zeitgenossen, der – nicht zuletzt wegen seines extremen Stotterns – jedes Gespräch vermied. Bernhard hatte in der Stadt, in der er lebte, keine Freunde. Er hatte keine Bekannte, nicht einmal Saufkumpanen. Bernhard war so allein, wie ein Mensch nur sein konnte.
»Wovon hat er denn überhaupt gelebt?«, wollte Sven wissen.
»Sozialhilfe«, sagte ich. »Gelegentlich putzte er abends auch in einem Imbiss. Und er hatte ein steifes Bein, irgendein Unfall. Dafür gab es, wenn ich die Unterlagen richtig verstanden habe, eine kleine Rente von der Versicherung. Er kam zurecht, glaube ich. Der Schnaps in seiner Wohnung, das waren nicht nur Billigsorten.«
Sollte das ein Trost sein? Es war zum Heulen! Mein Leben wankte. Mit Bernhard war nicht nur ein Freund, sondern mein Ideal gestorben.
Epilog
13.7.2000
H eute ist mein Geburtstag. Mein Vierzigster. Aber mir ist weiß Gott nicht nach Feiern zu Mute.
Ich stehe hier an einem offenen Grab und wünschte, es würde regnen. Doch die Julisonne brennt, durch kein Wölkchen gemildert, auf uns herab. Der Pastor redet irgendetwas, Phrasen, nichts als Phrasen. Aber was soll er auch sagen – den Menschen, der in diesem Sarg liegt, hat er schließlich gar nicht gekannt. Genauso wenig wie wir. Obwohl wir wirklich dachten, wir täten es.
In wenigen Minuten wird die schlichte Holzkiste in dieses
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