Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
sich ihm zu. Die Gäste, nicht ahnend, was sie anrichteten, applaudierten noch lauter und riefen immer wieder: »Eine Rede! Eine Rede!«
Und da betrat plötzlich Dilbert die Bühne! Von allen unbemerkt, hatte er die fünf Stufen am Bühnenrand erklommen und stand nun neben Jörns Vater, der ihm zögernd das Mikro in die ausgestreckte Hand drückte.
Der Scheinwerfer auf Franz’ Gesicht verlosch, Jörns Vater verließ die Bühne. Neugierig ruhte nun jeder Blick auf Dille, der bierernst dreinschaute.
Dille räusperte sich und klopfte auf das Mikrofon, um zu testen, ob es noch an war. Als Antwort erhielt er eine laute Rückkopplung. Einige Leute im Saal zuckten aufgeschreckt zusammen.
» Äh «, sagte Dille. »Ich bin Dilbert. Ein alter Freund von Sven.« Er überlegte kurz und blickte dann in die Richtung, in der Sven und Jörn standen. »Herzlichen Glückwunsch euch beiden.« Die Gäste klatschten höflich. Uns Kirschkernspuckern aber stand eine Frage deutlich ins Gesicht geschrieben: Was hat Dille vor?
»Also«, sagte Dille, der nervös von einem Bein auf das andere trat, »der Pastor vorhin in der Kirche sagte, die Liebe komme nicht vom Kopf, sondern vom Herzen. Und Sven versuchte mir neulich zu erklären, dass es viele Arten gibt, Ich liebe dich zu sagen. Und ich weiß nicht, ob irgendjemand von euch das auch kennt oder ob ich der Einzige bin, dem es so geht, aber ich habe keine Ahnung, wie man sein Herz sprechen lässt. Ich bin einer dieser Idioten, die immer dachten, fürs Sprechen ist der Mund zuständig.«
Die Gäste lachten anerkennend. Manche flüsterten einander etwas zu.
»Ich meine«, fuhr Dilbert fort, »heute reden alle von der Liebe. Weil das hier eine Hochzeit ist und so. Aber was ist in ein paar Jahren, wenn der Alltag da ist? Wie kann man dann noch Ich liebe dich sagen? Etwa noch mal heiraten?« In Dilles Stimme hatte sich ein brüchiger Unterton eingeschlichen, so als ob er gleich zu weinen beginnen würde.
Einige Leute im Saal räusperten sich nervös. Ich suchte mit den Augen das Publikum nach Petra ab. Sie stand relativ weit vorn an der Bühne, stocksteif, mit fassungslosem Gesichtsausdruck, als hätte sie der Blitz getroffen.
»Oh mein Gott! Dille!«, hörte ich Susann seufzen.
»Es gibt einen Menschen, den ich mehr liebe als alles andere auf der Welt«, fuhr Dille fort. »Und ich fürchte, sie weiß es nicht. Und deshalb versuche ich es ihr heute zu sagen. Mit dem Herzen!«
Es war mucksmäuschenstill im Saal geworden. Alle starrten Dilbert gebannt an. Ich konnte sehen, dass sich einige Paare in den Arm genommen hatten. Dilberts Auftritt, den ich ehrlich gesagt ein kleines bisschen peinlich fand, schien sie berührt zu haben. Wir konnten ja alle nicht ahnen, was uns noch erwartete.
Dille hängte das Mikro in die Verankerung des Ständers, was eine erneute schrille Rückkopplung zur Folge hatte, und drehte sich um. Für einen kurzen Moment dachte ich, es wäre vorbei. Dille hätte begriffen, dass er sich lächerlich machte. Doch dann sah ich, dass er sich die E-Gitarre umhängte, die noch von der Band dastand, dass er den Verstärker aufdrehte und zum Mikro zurückkehrte.
Ich wusste gar nicht, dass Dille Gitarre spielen kann , schoss es mir durch den Kopf. Und als er den ersten Akkord anschlug, mussten ich und alle anderen Anwesenden schmerzhaft erfahren, dass er es tatsächlich nicht konnte! Es klang, als hätte die Nachtschicht im Sägewerk begonnen.
Dille schrammelte ein paar Akkorde, deren Griffe er sich mühsam und nicht immer ganz korrekt eingeprägt haben musste, und sang dazu, nicht schön, aber laut und voll Inbrunst, Chris de Burghs Lady in Red . Jetzt lachten eine Menge Gäste. Die ersten vermuteten vielleicht sogar, sie würden hier einer besonders genialen Kleinkunst-Darbietung, einem völlig verrückten Comedy-Sketch beiwohnen. Manche hielten sich demonstrativ die Ohren zu. Andere schüttelten nur noch ungläubig den Kopf.
Als die erste Strophe zu Ende war, gab es nur einen kurzen Moment der Hoffnung. Einige Leute klatschten und johlten demonstrativ, um Dille die Chance zum Aufhören zu geben. Dille krähte und schrammelte jedoch unbarmherzig weiter!
Doch dann erschienen, unter erleichtertem Applaus der Gäste, die Musiker von Paddy goes to Holyhead , schnappten sich ihre Instrumente und fielen in Dilles Lied ein. Dille blickte irritiert um sich, hielt für eine Textzeile und vier Takte inne, setzte dann aber wieder ein. Plötzlich klang es besser, Bass und
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