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Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Titel: Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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schreiende Frauen, essende Ärzte und einen verdutzten Elektriker vorfand. Von meinem Vater aber gab es keine Spur.
    Schließlich – der Suchtrupp war mittlerweile fest überzeugt, mein Vater hätte sich aus dem Staub gemacht, und angesichts dieser Furie von Frau wäre das weiß Gott auch kein Wunder – fanden sie ihn. Die Putzfrau hatte ihn versehentlich in der Herrentoilette eingeschlossen.
    »Warum hast du denn nichts gesagt?«, schnauzte ihn meine wütende Mutter an. »Warum hast du dich nicht irgendwie bemerkbar gemacht?«
    »Das habe ich doch versucht«, schwor mein kleinlauter Vater. »Aber keiner hat mich gehört.«
    Meine Mutter, die wusste, welch immense Abneigung mein Papa dagegen hat, aufzufallen, sah ihn nur missbilligend den Kopf schüttelnd an.
    Ich glaube ihm. Wer jemals auf einer Entbindungsstation war, weiß, dass die Schreie gebärender Frauen sehr, sehr laut und mitunter so exotisch klingen wie kopulierende Nilpferde oder Mudschahedin-Gesänge. Eine Männerstimme, die – wie ich meinen Vater kenne – immer wieder eher zaghaft »Hilfe, Hilfe!« repetiert, würde tatsächlich niemand zur Kenntnis nehmen.
    Natürlich kann ich mich selbst an diesen Vorfall nicht erinnern. Aber ich habe ihn oft erzählt bekommen: Die Geschichte von meinem Vater im Herrenklo der Entbindungsklinik Hamburg-Finkenau zählt zu den Anekdoten-Klassikern unserer Familienfeiern. Ich habe die Geschichte so oft gehört, dass es mir mittlerweile vorkommt, als hätte ich sie wirklich bewusst miterlebt. Und immer, wenn ich sie höre, stelle ich mir vor, wie ich in meiner Keramikschale liege, gerade geboren und schon mutterseelenallein im abgedunkelten Kreißsaal, und leise rufe: »Hallo. Hallo. Ist da jemand? Äh  … War’s das jetzt etwa schon?«
    Diese Frage ist mein Mantra geworden: »War’s das etwa schon?« Man möge es, wenn’s denn einmal so weit ist, in meinen Grabstein meißeln: Piet Lehmann – War’s das etwa schon?
    * * *
    Franz kicherte: »Du hast einfach nur auf dem Klo gesessen?«
    Heinz seufzte: »Ich weiß auch nicht. Plötzlich war mir, als bräuchte ich einen Notausgang …«
    »Einen Notausgang … auf dem Klo?« Franz prustete jetzt. »Wolltest du dich runterspülen?«
    Jetzt grinste auch Heinz: »Ja, ich weiß. Es klingt bescheuert. Aber … weißt du, ich hatte das Gefühl, dass mich jemand wohin zerrt, wo ich nicht hin will …«
    Franz wurde ernster. »Aber du wolltest doch auch ein Kind. Hast du jedenfalls gesagt.«
    » Will ich auch!«, rief Heinz – und senkte dann, erschrocken über sich selbst, sofort wieder die Stimme. »Ich liebe den kleinen Scheißer schon jetzt. Aber in diesem Moment, als ich da saß und mir die feuchten Hände knetete und Vera so schreien hörte … da dachte ich plötzlich: Halt! Hier stimmt etwas nicht! Ich kann nicht Vater werden – der Schuh ist ein paar Nummern zu groß!«
    » Und?«, fragte Franz, »hast du das Gefühl immer noch?«
    »Manchmal«, flüsterte Heinz.
    Die beiden Männer schwiegen für einen Moment. Dann grinste Franz wieder: »Weißt du, es gibt ein englisches Sprichwort, das heißt Shit or get off the pot.«
    Heinz, der kein Englisch konnte, zuckte fragend mit den Achseln.
    » Das heißt so viel wie Entweder kackst du jetzt oder du kommst endlich von der Schüssel runter«.
    Die beiden Männer sahen sich kurz an. Dann fingen sie an loszuprusten. »Noch nie«, lachte Franz aus ganzem Herzen, »hat ein Sprichwort besser gepasst!«
    Sie kicherten noch eine ganze Minute, laut, befreit, und dann nahmen sie sich kurz in die Arme, drückten sich unbeholfen, und Heinz klopfte Franz auf die Schulter.
    »Ich will’s ja auch gar nicht anders!«, sagte er. »Nur … manchmal ist man sich einfach nicht sicher, ob man die richtige Abzweigung genommen hat.«
    Franz wurde still. Und dann nickte er. Wissend.
    * * *
    Ich habe mir nie recht vorstellen können, dass die Sterne wirklich einen Einfluss auf den Charakter haben. Wie kann man ernsthaft der Umlaufbahn von Pluto die Schuld daran geben, dass jemand ein ausgemachtes Arschloch, ein Jammerlappen oder eine Knalltüte geworden ist? Meine Vermutung ist vielmehr, dass nichts uns mehr prägt als die ersten zehn Minuten unseres Lebens. Die ersten 600 Sekunden nach unserer Geburt.
    Ich selbst bin, wie gesagt, ein exzellentes Beispiel. Mich hat man mit viel Gebrülle und Anfeuerungsrufen herausgedrückt, sorgfältig abgecheckt und dann … einfach zur Seite gelegt. Mein Entree ins menschliche Leben

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