Die Drenai-Saga 6 - Druss-Die Legende
Ich glaub’s nicht! An was denke ich gerade?«
»An ein weißes Pferd mit einem Kranz aus roten Blumen.«
»Oh, Ro! Das ist ja großartig! Erzähl mir meine Zukunft«, bettelte sie und streckte die Hand aus.
»Du wirst es niemandem sagen?«
»Ich habe es dir doch versprochen!«
»Manchmal funktioniert es nicht.«
»Versuch’s trotzdem«, drängte Mari und streckte ihre plumpe Hand aus. Rowena nahm sie. Ihre schlanken Finger schlossen sich um Maris Handfläche. Doch plötzlich schauderte sie, und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht.
»Was ist los?«
Rowena fing an zu zittern. »Ich … ich muß zu Druss. Kann nicht … reden.« Sie stand auf und stolperte davon. Ihre Wäsche war vergessen.
»Ro! Rowena, komm zurück!«
Oben auf dem Berg starrte ein Reiter auf die Frauen am Fluß hinunter. Dann wendete er sein Pferd und ritt rasch nach Norden davon.
Bress schloß die Tür der Hütte und ging in seinen Werkraum, wo er einen Spitzenhandschuh aus einer kleinen Schachtel nahm. Er war alt und vergilbt und einige der Perlen, die einst das Handgelenk geschmückt hatten, fehlten inzwischen. Es war ein kleiner Handschuh, und Bress saß an seiner Werkbank und starrte auf ihn hinunter. Seine kräftigen Finger streichelten über die noch verbliebenen Perlen.
»Ich bin verloren«, sagte er leise, schloß die Augen und stellte sich Alithaes liebliches Gesicht vor. »Er verabscheut mich. Bei den Göttern, ich verabscheue mich ja selbst!« Er lehnte sich im Stuhl zurück und betrachtete müßig die Wände und die vielen Regale, auf denen Kupfer- und Messingdraht lagen, Werkzeuge, Dosen mit Farben und Schachteln mit Perlen. Jetzt hatte Bress nur noch selten Zeit, Schmuck zu fertigen. Hier in den Bergen bestand für solchen Luxus zudem nur wenig Bedarf. Jetzt wurden Bress’ Fähigkeiten als Tischler geschätzt. Er zimmerte nurmehr Türen und Tische, Stühle und Betten.
Den Handschuh noch immer liebkosend, ging er zurück in den Hauptraum.
»Ich glaube, wir wurden unter einem Unglücksstern geboren«, sagte er zu der toten Alithae. »Oder vielleicht hat das Böse in Bardan unser Leben befleckt. Druss ist wie er, weißt du. Ich sehe es in seinen Augen, in den plötzlichen Wutanfällen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich konnte Vater nie überzeugen. Und ich komme an Druss nicht heran.«
Seine Gedanken schweiften zurück. Erinnerungen überfluteten ihn, dunkel und schmerzlich. Er sah Bardan an jenem letzten Tag, blutüberströmt, umgeben von seinen Feinden. Sechs Männer waren tot, und diese entsetzliche Axt hieb noch immer nach links und rechts. Dann hatte jemand Bardan eine Lanze in die Kehle gestoßen. Blut schoß aus der Wunde, doch Bardan erschlug den Lanzenträger, ehe er auf die Knie sank. Ein Mann rannte von hinten zu ihm und landete einen furchtbaren Hieb in Bardans Nacken.
Von seinem Versteck hoch oben in der Eiche hatte der vierzehnjährige Bress beobachtet, wie sein Vater starb, und er hatte gehört, wie einer der Mörder sagte: »Der alte Wolf ist tot – wo ist nun das Junge?«
Er war die ganze Nacht auf dem Baum geblieben, hoch über dem kopflosen Leichnam Bardans. In der Kälte der Morgendämmerung war er heruntergeklettert und stand neben dem Toten. Er spürte keine Trauer, nur ein schreckliches Gefühl der Erleichterung, vermischt mit Schuld. Bardan war tot: Bardan der Metzger. Bardan der Schlächter. Bardan der Dämon.
Bress war fast hundert Kilometer bis zu einer Siedlung gewandert; dort hatte er als Lehrling bei einem Zimmermann Arbeit gefunden. Doch gerade als er sich niederlassen wollte, holte die Vergangenheit ihn ein, um ihn zu quälen: Ein alter, reisender Kesselflicker erkannte ihn als den Sohn des Teufels! Eine Menschenmenge sammelte sich vor der Werkstatt des Zimmermanns, ein zorniger Mob, der sich mit Knüppeln und Steinen bewaffnet hatte.
Bress war aus dem Hinterfenster geklettert und aus der Siedlung geflohen. In den nächsten fünf Jahren war er noch dreimal zur Flucht gezwungen – und dann war er Alithae begegnet.
Damals hatte ihm das Glück zugelächelt. Er erinnerte sich, wie Alithaes Vater am Tag ihrer Hochzeit zu ihm gekommen war und ihm einen Becher Wein angeboten hatte. »Ich weiß, du hast viel durchgemacht, mein Junge«, sagte der alte Mann. »Aber ich gehöre nicht zu denen, die glauben, daß das Böse eines Vaters die Seelen seiner Kinder heimsucht. Ich kenne dich, Bress. Du bist ein guter Mann.«
Ja, dachte Bress, als er vor dem Feuer saß. Ein guter Mann. Er hob
Weitere Kostenlose Bücher