Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
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S ie sagen, dort oben in der Mansarde sei ein Kind gestorben.
Man hat seine Kleider hinter dem Mauerwerk gefunden. Ich hatte den Wunsch hinaufzugehen, mich dicht an der Wand niederzulegen und allein zu sein.
Sie hatten hin und wieder seinen Geist gesehen - den des Kindes. Aber eigentlich konnte keiner dieser Vampire Geister sehen, zumindest nicht so, wie es mir gegeben war. Doch gleichgültig. Ich wünschte nicht die Gesellschaft dieses Kindes. Ich wünschte mich an jene Stelle. Es war nutzlos, sich noch länger in Lestats Nähe aufzuhalten. Ich war hergekommen. Ich hatte mein Vorhaben durchgerührt. Ich konnte ihm nicht helfen.
Der Anblick seiner unverwandt auf einen Punkt gerichteten Augen zermürbte mich, und im Innern war ich ruhig und ganz von Liebe erfüllt zu denen, die mir jetzt die Nächsten waren - meine menschlichen Kinder, mein dunkelhaariger kleiner Benji und meine sanfte, geschmeidige Sybelle -, aber ich hatte noch nicht genug Kraft gesammelt, um sie von hier fortzubringen. Ich verließ die Kapelle. Ich achtete nicht einmal darauf, wer gerade dort war. Der gesamte ehemalige Konvent wimmelte zurzeit von Vampiren. Nicht, dass es hier zu lebhaft zugegangen wäre oder pietätlos - nur hatte ich keinen Blick dafür übrig, wer noch in der Kapelle war, als ich ging. Lestat lag, wie schon seit langem, ausgestreckt auf den Marmorplatten der Kapelle, direkt vor dem großen Kruzifix. Er lag auf der Seite, mit schlaffen Händen, die rechte oberhalb der linken, und seine Finger berührten leicht den Boden, wie gewollt. Doch es gab für ihn keinerlei Wollen. Die Finger seiner rechten Hand waren leicht gekrümmt, und die kleine Höhle, die sie bildeten, lag bedeutungsvoll unmittelbar über einem Lichtfleckchen, nur, dass auch dies keine Bedeutung hatte. Hier lag nur der mit übernatürlichen Kräften begabte Körper, willenlos und unbelebt, genauso sinnentleert wie sein Gesicht, das einen beinahe trotzigen Ausdruck von Intelligenz zeigte, wenn man in Betracht zog, dass Lestat sich seit Monaten nicht gerührt hatte. Pflichtschuldigst wurden die hohen Buntglasfenster vor Sonnenaufgang für ihn verhängt. Nachts leuchteten sie in dem wundersamen Licht der vielen Kerzen, die zwischen den Standbildern und religiösen Abbildungen dieses ehemals heiligen Ortes verstreut standen. Unter dem hohen Gewölbe hatten einst sterbliche Kinder die Messe gehört. Ein Priester hatte am Altar die lateinischen Worte intoniert.
Nun gehörte es uns. Es gehörte ihm - Lestat, dem, der dort bewegungslos auf dem Marmorboden lag. Mann. Vampir. Unsterblicher. Kind der Finsternis. Jedes dieser Worte passte ausgezeichnet auf ihn. Als ich ihn jetzt mit einem Blick über die Schulter betrachtete, fühlte ich mich wie nie zuvor als ein Kind, als Jüngling. Denn das bin ich. Die Definition des Wortes Jüngling passt so perfekt auf mich, als sei sie in mir gespeichert und als habe es für mich nie ein anderes genetisches Muster gegeben. Ich war etwa siebzehn, als Marius mich zu einem Vampir machte. Ich war ausgewachsen, denn seit einem Jahr betrug meine Größe unverändert 1,65 Meter. Meine Hände sind zierlich wie die einer jungen Frau, und ich war bartlos, wie wir es in jenen Zeiten, im 16. Jahrhundert, nannten. Kein Eunuch, nein, ganz bestimmt nicht, aber ein Jüngling noch. Damals hatte ein junger Mann so hübsch zu sein wie ein Mädchen, das verlangte die Mode. Erst in der heutigen Zeit scheint mir das wirklich erstrebenswert, und auch nur, weil ich liebe - sie, die zu mir gehören: Sybelle mit ihren weiblich vollen Brüsten und den schlaksig-mädchenhaften Gliedern und Benji mit seinem runden, ausdrucksvollen arabischen Gesicht.
Ich blieb unten an der Treppe stehen. Keine Spiegel hier, nur die hohen, vom Putz befreiten Ziegelmauern, Mauern, die nur nach amerikanischen Maßstäben alt sind, und nachgedunkelt von der Feuchtigkeit, die selbst innerhalb der Mauern des Klosters herrschte, denn die schwül-warmen Sommer und klamm-feuchten Winter von New Orleans zermürben die Oberfläche jedes Materials. Ich sage immer »grüner Winter« dazu, denn die Bäume hier verlieren fast nie ihr Laub. Verglichen damit, herrschte in dem Land, in dem ich geboren wurde, fast immer Winter. Kein Wunder, dass ich in dem sonnigen Italien meinen Ursprung vollkommen vergaß und das Leben mit Marius mein Dasein ausmachte. »Ich kann mich nicht erinnern.« Das war mein Zustand, und so verschrieb ich mich gern den verschiedensten Lastern, dem Wein und den
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