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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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einen Vogel bestimmt. »Es ist etwas früh für einen weißen Bordeaux.«
    »Was anderes hab ich nicht.«
    »Es wird schon gehen«, entschied der Alte.
    Adamsberg schenkte ihm ein und setzte sich neben ihn, mit dem Rücken zu dem Sonnenviereck.
    »Was also wissen Sie?« fragte Lucio.
    »Daß die vormalige Besitzerin sich in dem Zimmer oben erhängt hat«, sagte Adamsberg und deutete mit dem Finger zur Decke. »Deshalb wollte niemand das Haus. Mir ist das egal.«
    »Weil Sie schon eine Menge Erhängter gesehen haben?«
    »Habe ich, allerdings. Aber die Toten haben mir nie Schwierigkeiten gemacht. Nur ihre Mörder.«
    »Wir sprechen hier nicht von richtigen Toten, hombre, wir sprechen von anderen, von denen, die nicht gehen. Die hier ist nie fortgegangen.«
    »Die Erhängte?«
    »Die Erhängte ist fort«, erklärte Lucio und goß sich einen ordentlichen Schluck hinter, wie um das Ereignis zu begrüßen. »Haben Sie gewußt, warum sie sich umgebracht hat?«
    »Nein.«
    »Das Haus hat sie in den Wahnsinn getrieben. Alle Frauen, die hier wohnen, werden von dem Schatten zermürbt. Und dann sterben sie dran.«
    »Von dem Schatten?«
    »Dem Gespenst aus dem Kloster. Deshalb heißt diese Sackgasse auch Ruelle aux Mouettes.«
    »Das verstehe ich nicht«, sagte Adamsberg und schenkte den Kaffee ein.
    »Im vorvorvorigen Jahrhundert stand hier mal ein altes Frauenkloster. Das waren Ordensschwestern, die nicht sprechen durften.«
    »Ein Schweigeorden.«
    »Genau. Man sagte Rue aux Muettes, die Straße der Stummen. Und dann ist schließlich ›Mouettes‹, Möwen, daraus geworden.«
    »Es hat also nichts mit den Vögeln zu tun?« sagte Adamsberg enttäuscht.
    »Nein, gemeint sind die Nonnen. Aber ›Muettes‹ läßt sich schwer aussprechen. Muettes«, fügte Lucio hinzu, indem er sich besondere Mühe gab.
    »Muettes«, wiederholte Adamsberg langsam.
    »Sehen Sie, wie schwer es ist. Zu jener Zeit hat eine dieser Stummen das Haus hier besudelt, müssen Sie wissen. War, scheint’s, mit dem Teufel im Bunde. Aber nun ja, dafür gibt’s keine Beweise.«
    »Und wofür haben Sie Beweise, Monsieur Velasco?« fragte Adamsberg lächelnd.
    »Sie können mich Lucio nennen. Beweise hat man genug. Es hat damals einen Prozeß gegeben, im Jahre 1771, das Kloster ist danach aufgegeben und das Haus gereinigt worden. Die Stumme ließ sich heilige Clarisse nennen. Für eine Zeremonie und Geld versprach sie alten Frauen, sie kämen ins Paradies. Nur wußten die Alten nicht, daß die Reise dahin sofort losging. Wenn sie mit ihren prall gefüllten Geldbeuteln ankamen, schnitt sie ihnen die Kehle durch. Sie hat sieben umgebracht. Sieben, hombre. Eines Nachts jedoch wurde ihr Elan gedrosselt.«
    Lucio brach in sein jungenhaftes Lachen aus, dann faßte er sich wieder.
    »Mit diesen bösen Geistern sollte man nicht spaßen«, sagte er. »Da, mein Biß juckt schon wieder, das ist die Strafe.«
    Adamsberg sah zu, wie er seine Finger in der Luft bewegte, und wartete in aller Ruhe das Weitere ab.
    »Verschafft es Ihnen Erleichterung, wenn Sie sich kratzen?«
    »Einen Moment lang, dann fängt es wieder an. Am Abend des 3. Januar 1771 kam eine Alte zu Clarisse, um sich das Paradies zu kaufen. Aber ihr Sohn, mißtrauisch und gewinnsüchtig, begleitete sie. Er war Gerber, er hat die Heilige umgebracht. Einfach so«, zeigte Lucio und drückte seine Faust auf den Tisch. »Er hat sie unter seinen Riesenhänden plattgemacht. Konnten Sie mir folgen?«
    »Ja.«
    »Sonst kann ich auch noch mal anfangen.«
    »Nein, Lucio. Fahren Sie fort.«
    »Doch diese verdammte Clarisse ist nie richtig fortgegangen. Weil sie erst sechsundzwanzig Jahre alt war, verstehen Sie. Und alle Frauen, die nach ihr hier gewohnt haben, sind mit den Füßen voran wieder rausgekommen, gewaltsamer Tod. Vor Madelaine – das ist die Erhängte – war da eine gewisse Madame Jeunet, in den sechziger Jahren. Sie ist grundlos aus dem obersten Fenster gestürzt. Und vor der Jeunet eine Marie-Louise, die man mit dem Kopf im Kohlenofen gefunden hat, im Krieg. Mein Vater kannte sie beide. Nichts als Ärger.«
    Die beiden Männer nickten, Lucio Velasco voller Ernst, Adamsberg mit einem gewissen Vergnügen. Der Kommissar wollte den Alten nicht verdrießen. Im Grunde sagte die amüsante Spukgeschichte ihnen beiden sehr zu, und als Kenner zogen sie sie genauso in die Länge, wie man dem Zucker im Kaffee Zeit zum Auflösen gibt. Die Schandtaten der heiligen Clarisse bereicherten Lucios Leben und lenkten Adamsberg

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