Die dritte Jungfrau
…«
»Bis ein kleiner Idiot namens Jean-Baptiste Adamsberg sich in den Kopf setzte, daß der Abgeordnete von Le Havre ermordet worden sei. Und warum? Wegen zehn toter Ratten, die du in einem Lagerhaus des Hafens aufgelesen hattest.«
»Zwölf, Ariane. Zwölf Ratten, die verblutet waren, nachdem man ihnen den Bauch aufgeschlitzt hatte.«
»Zwölf, wenn du willst. Daraus hattest du geschlossen, daß ein Mörder sich Mut antrainiert, bevor er losstürmt. Und war noch etwas anderes. Du fandest, die Wunde läge allzu waagerecht. Du sagtest, der Abgeordnete hätte den Säbel eigentlich schräger halten müssen, von unten nach oben. Während er doch stockbetrunken war.«
»Und dann hast du mein Glas auf den Boden geschmissen.«
»Ich hatte ihm doch einen Namen gegeben, verdammt, diesem Grenadine-Bier.«
» Grenaille. Du hast dafür gesorgt, daß ich gefeuert wurde in Le Havre, und deinen Bericht ohne mich abgegeben: Selbstmord.«
»Was hast du schon davon verstanden? Nichts.«
»Nichts«, gab Adamsberg zu.
»Laß uns einen Kaffee trinken. Und du wirst mir erzählen, was dir an deinen Leichen so zu denken gibt.«
4
Lieutenant Veyrenc war seit drei Wochen mit diesem Auftrag betraut und saß eingeklemmt in einem ein Quadratmeter großen Wandschrank zum Schutz einer jungen Frau, die er zehnmal am Tag auf dem Treppenabsatz vorbeigehen sah. Diese junge Frau rührte ihn an, und dieses Gefühl wiederum wurmte ihn. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, suchte eine andere Sitzposition.
Doch kein Grund zur Aufregung, das war nur ein Körnchen Sand im Getriebe, ein Splitter im Fuß, ein Vogel im Motor. Der Mythos, demzufolge ein einziger kleiner Vogel, so entzückend er sein mochte, ganz allein die Turbine eines Flugzeugs zum Explodieren bringen konnte, war reiner Quatsch, wie so vieles andere, was die Menschen dauernd erfanden, um sich selbst Angst einzujagen. Als hätten sie nicht schon genug solcher Sorgen. Veyrenc verscheuchte den Vogel, indem er an etwas anderes dachte, schraubte seinen Füller auf und machte sich daran, sorgfältig die Feder zu reinigen. Es gab ohnehin nichts anderes zu tun. Im Haus war es vollkommen still.
Er schraubte seinen Füller wieder zu, klemmte ihn an seiner Innentasche fest und schloß die Augen. Fünfzehn Jahre lang war er Tag für Tag im verbotenen Schatten des Nußbaums eingeschlafen. Fünfzehn Jahre harter Arbeit, die ihm keiner nehmen würde. Beim Aufwachen hatte er seine Allergie mit dem Saft des Baumes behandelt, und im Laufe der Zeit hatte er die Schrecken gezähmt, war er bis zum Ursprung der quälenden Fragen hinabgestiegen, um seine Qual zu bändigen. Fünfzehn Jahre Anstrengung, um einen schmächtigen jungen Burschen, der sein Haar verbarg, in einen kräftigen Körper und eine robuste Seele zu verwandeln. Fünfzehn Jahre Kraftaufwand, um nicht mehr als verletzlicher Tollkopf durch die Welt der Frauen zu taumeln, eine Welt, die ihn gesättigt von Gefühlen und überdrüssig ihrer Verwicklungen zurückgelassen hatte. Als er wieder aufgestanden war unter jenem Nußbaum, war er in Streik getreten wie ein erschöpfter Arbeiter, der vorzeitig den Ruhestand wählt. Sich fernhalten von den steilen Höhenlagen, Wasser in den Wein der Gefühle mischen, verdünnen, dosieren, den Zwang der Begierden brechen. Für seine Begriffe kam er inzwischen gut damit zurecht, er mied verworrene und chaotische Situationen und war einer gewissen idealen Ausgeglichenheit schon ganz nah. Nur harmlose und flüchtige Beziehungen, rhythmische Schwimmbewegungen hin zu seinem Ziel, Arbeit, Lesen und Verseschmieden, ein beinahe vollkommener Zustand.
Sein Ziel, in die Pariser Brigade criminelle versetzt zu werden, die von Kommissar Adamsberg geführt wurde, hatte er erreicht. Er war zufrieden, wenn auch überrascht. Es herrschte ein ungewöhnliches Mikroklima in diesem Team. Unter der kaum spürbaren Leitung ihres Chefs ließen die Beamten ihre Fähigkeiten nach Belieben sprießen, gaben sich Stimmungen und Launen hin, die in keinerlei Zusammenhang mit den gesetzten Zielen standen. Die Brigade hatte eine Menge unbestreitbarer Resultate vorzuweisen, aber Veyrenc blieb äußerst skeptisch. Es fragte sich, ob diese Leistung das Ergebnis einer Strategie oder eine Frucht der Vorsehung war. Einer Vorsehung, die die Augen beispielsweise vor der Tatsache verschloß, daß Mercadet im oberen Stockwerk Kissenblöcke ausgelegt hatte, auf denen er mehrere Stunden am Tag schlief, oder daß eine exzentrische Katze ihre
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